18 Mai 2020
Kunstwerke mit orientalischen Motiven erfreuten sich im 19. Jahrhundert grosser Beliebtheit. Heute aber sind die Bildthemen wie etwa jenes der Odaliske kritisch zu hinterfragen.
Mit aufgestütztem Kopf und gesenktem Blick sitzt eine junge Frau gedankenversunken auf einem tiefgelagerten Divan, die Beine locker übereinander geschlagen. Sie trägt eine gelbe Pluderhose, darunter weisse Strümpfe, und die zierlichen Pantoffeln an den Füssen laufen aus in einer nach oben gebogenen Spitze. Die gewickelte Bluse mit tiefem Ausschnitt gibt den Blick auf eine darunter nur leicht bekleidete Brust frei und ist so drapiert, dass ihre prunkvollen Enden aus kostbarem Stoff elegant über den Schoss herabfallen. Auf dem Kopf trägt sie einen Turban aus ebenfalls gewickelten Tüchern. Der Divan steht auf einem geknüpften Teppich im Freien, der Blick darauf wird jedoch durch einen Paravent geschützt. Zu Füssen der Figur steht eine Wasserpfeife, dahinter bietet sich uns ein Ausblick in die Natur.
Jean-Baptiste Camille Corot präsentiert hier eine Fülle an exotischen Motiven, mithilfe derer sich die Szene in den Orient verorten lässt, und der Bildtitel Odaliske gibt uns Aufschluss über die Rolle der dargestellten jungen Frau als Konkubine im Harem des Sultans. Diese erfreut sich als eines neben vielen anderen orientalischen Bildthemen grosser Beliebtheit in der europäischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Ihre Darstellung eröffnet dem Betrachter eine ganze Welt an verklärten, romantisierenden Vorstellungen, sie dient als Projektionsfläche für erotische Phantasien, obschon die tatsächlichen Realitäten eines Lebens im Harem ganz andere gewesen sein mögen. Corot folgt hier einer typischen Mode seiner Zeit.
Spätestens seit Edward Saids 1978 publizierter Kritik am westlichen Blick auf östliche Kulturen entwickelte sich ein differenzierter Umgang mit Darstellungen dieser Art. Saids Orientalismus-Theorie besagt, dass der Westen von einer Überlegenheit gegenüber dem Orient ausgehe. Europa sei in diesem Konzept der Massstab für die Zivilisation, die 'aufgeklärte' Welt, und in Abgrenzung dazu konstruiere es ein Bild vom Orient als dem Rückständigen, dem Fremden und Mysteriösen. Damit verbunden sind Vorstellungen einerseits von kriegerischer Barbarei, andererseits von ausschweifender, zügelloser Sinnlichkeit, in deren Kontext wir auch das Bildthema der Odaliske wiederfinden und kritisch zu hinterfragen haben.
Doch schon weit vor dem 19.Jahrhundert beschäftigte sich die Kunst mit den fremden Kulturen des Orients. Wenn wir den Blick in der Kunstgeschichte zurückschweifen lassen, so finden wir in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts eine aufflammende Vorliebe für orientalische Motive. Grund dafür waren neue Handelsrouten in den Nahen Osten, über die Erzählungen und Kulturobjekte ihren Weg nach Europa fanden.
Bei Rembrandt ist dieses Interesse besonders augenfällig. Im Basler Gemälde David übergibt Goliaths Haupt dem König Saul kleidet er die Figuren in kostbare exotische Gewänder und prunkvolle Turbane. Er setzt die biblische Geschichte in einen orientalischen Kontext und verortet sie damit geografisch in die Region ihres tatsächlichen Geschehens, wenn auch Rembrandts Darstellung der Turbane und Gewänder seine Vorstellung einer zeitgenössischen Mode und nicht einer historischen wiedergibt. Das Kunstmuseum Basel wird Rembrandts Verhältnis zum Orient in der grossen Sonderausstellung Rembrandts Orient im Herbst in den Fokus stellen.
Autorin: Seraina Werthemann, Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin