28 Apr. 2020
Karl Im Obersteg war einer der wichtigsten frühen Chagall-Sammler im Westen und begründete eine langjährige Tradition der Verbundenheit Basels mit dem Künstler. Nachlesen lässt sich das im Katalog zur Ausstellung "Picasso, Chagall, Jawlensky", der in unserem Online Shop erhältlich ist.
Am 23. Oktober 1935 wandte sich Karl Im Obersteg mit einer erstaunlichen Anfrage an Marc Chagall: «Lieber Freund, Ich bin eben daran, meine Bilder etwas umzuhängen und hätte vor allem gerne einen typischen Chagall in meinem Wohnzimmer gegenüber dem Picasso. Seinerzeit als ich die Hochzeit kaufte, glaubte ich, dass dieses Bild dorthin passen würde; es ist aber zu gross. Es scheint mir nun nicht ausgeschlossen, dass Sie eventuell auch Freude hätten, mein Bild, die Hochzeit, gegen ein anderes Ihrer früheren Bilder umzutauschen. Ich habe dabei an die grüngelbe Gestalt gedacht, die nämlich in der Grösse und jedenfalls auch in der Farbe sehr gut in mein Wohnzimmer passen würde und möchte Sie nun bitten, mir in aller Offenheit zu sagen, wie Sie sich zu meinem Vorschlag stellen.»
Die erwähnte Hochzeit von 1911 hatte Im Obersteg bereits 1927 beim Pariser Kunsthändler Léopold Zborowski erworben. Die Komposition aus den frühen Pariser Jahren besticht durch die Vielfalt der friesartig angeordneten Hochzeitsgesellschaft, in deren Mitte – hervorgehoben durch eine zweifarbige Dreiecksfläche am Boden – das Brautpaar erscheint. Das Motiv der Prozession entstammt dem jüdischen Alltag. Stilistisch nahm Chagall Anleihen beim zeitgenössischen Kubismus ebenso wie beim Fauvismus sowie beim Kolorismus Robert Delaunays. Mit dem Juden in Grün wählte Im Obersteg eine deutlich kleinere Einzelfigur, die jedoch den Dimensionen seiner Privaträume besser entsprach und die inhaltlich wie auch stimmungsmässig perfekt in seine Sammlung passte, besonders zu Pablo Picassos Sitzfiguren der Buveuse d’absinthe und des Arlequin assis. Auf den ersten Blick erscheint das Bildnis wenig spektakulär, doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich komplexe Inhalte und Bezüge zur politischen Aktualität, zur Herkunft des Künstlers und zu seinem künstlerischen Werdegang. Dass sich knapp ein Jahr später, 1936, die Gelegenheit bot, dem russischen Sammler Alexandre Kagan-Chabchay fünf weitere Gemälde Chagalls von 1914 abzukaufen, insbesondere die beiden Geschwisterbilder Der Jude in Rot und Der Jude in Schwarz-Weiss, sollte sich als Glücksfall erweisen.
So kam der Basler zu sechs Gemälden aus der wichtigsten Schaffensphase des Malers. Von der Landschaft Über Witebsk und dem etwas fremdartig anmutenden Festtag trennte er sich 1951 wieder. Seinen Fokus legte er auf die drei monumentalen Judenbildnisse, deren Geschlossenheit und einzigartige Ausstrahlung fortan den künstlerischen und geistigen Kern seiner Sammlung bildeten.
Mehr zu Marc Chagall und seinen Judenbildnissen findet sich ausserdem im Katalog zur Ausstellung «Chagall. Die Jahre des Durchbruchs, 1911–1919», die 2017 im Kunstmuseum Basel zu sehen war.