24 März 2020
Mit Alexej von Jawlensky verband den Sammler Karl Im Obersteg eine lebenslange Verbundenheit. Nachlesen lässt sich das im Katalog zur Ausstellung "Picasso, Chagall, Jawlensky".
Ascona kurz nach dem Ersten Weltkrieg: Der nahe gelegene Monte Verità, auf dem bereits um die Jahrhundertwende Reformisten mit alternativen Lebens- und Kunstformen experimentiert hatten, war ein Anziehungspunkt für eine intellektuelle und künstlerische Avantgarde. Kunstinteressierte Bürger wie Karl Im Obersteg zog es ebenfalls in diese Künstleroase. 1919 fuhr er zur Erholung von der Spanischen Grippe nach Ascona und machte dort Bekanntschaft mit russischen Exilkünstlern aus München – es war der Beginn einer lebenslangen Verbundenheit mit Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin, Robert Genin und dem Tänzerpaar Alexander und Clotilde Sacharoff-von Derp.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte das Leben von Alexej von Jawlensky drastisch verändert. Praktisch über Nacht musste er München verlassen, wo er die letzten 18 Jahre verbracht hatte. Russische Staatsbürger galten fortan in Deutschland als feindliche Ausländer und wurden als potenzielle Spione angesehen. Besonders Jawlensky musste als ehemaliger russischer Offizier befürchten, nach Russland ausgewiesen zu werden. Er gelangte zunächst nach Zürich und übersiedelte im April 1918 ins südlichere Ascona. Dort soll Cuno Amiet, seit 1909 mit Jawlensky bekannt, das Ehepaar Im Obersteg mit dem russischen Avantgardekünstler zusammengebracht haben. Es entwickelte sich nicht nur eine lebenslange Freundschaft, sondern Karl Im Obersteg nahm auch eine wichtige mäzenatische Funktion ein.
Alexej von Jawlenskys Serie der Abstrakten Köpfe entstand ab 1918 im Laufe vieler Jahre und umfasst rund 300 Werke. Der Künstler entfernte sich dabei immer mehr vom Naturvorbild und überführte die individuellen Gesichtszüge in ein präzises geometrisches Vokabular. So erscheint das Gesicht hier zur Maske stilisiert. Der Kopf bildet eine U-Form, in die sich Mund, Nase, Augenbrauen und Haare in Gestalt horizontaler, vertikaler und leicht abgeschrägter Linien und Balken sowie von Kreissegmenten eingetragen haben. Eine Waagrechte im Bereich der Wange setzt sich ausserhalb der U-Form fort und verbindet das Gesicht mit einem Weite suggerierenden Horizont. Jawlensky hatte ein Grundschema für das Gesicht geschaffen, das er nicht streng repetierte, sondern ebenso subtil variierte wie die Farben, die sich von Bild zu Bild zu unterschiedlichen geometrischen Feldern fügen. Wenn er auch die geometrische Aufteilung weit vorantrieb, ging es dem Künstler letztlich nicht um reine Abstraktion. Vielmehr suchte er eine künstlerische Form, die seiner Sehnsucht nach Gott Ausdruck verlieh. So sind in Abstrakter Kopf: Mysterium wie in vielen Werken der Reihe die Augen geschlossen, der Blick ist nach innen gerichtet. Dergestalt strahlen die Köpfe meditative Versenkung aus. Sie wurden denn auch verschiedentlich als moderne Heiligen- oder Christusbilder gedeutet und in einen Zusammenhang mit der Tradition der russischen Ikonenmalerei gebracht.
1934 beteiligte sich Jawlensky an der Ausstellung Neue deutsche Malerei im Kunsthaus Zürich, wo Karl Im Obersteg die Arbeit zusammen mit Abstrakter Kopf: Gold und Rosa (1931) erwarb. Nach Ausstellungsende bat Jawlensky den Sammler um Erlaubnis, die restlichen Bilder bis zu einer weiteren Präsentationsmöglichkeit bei ihm in der Schweiz zwischenlagern zu dürfen, da er in Deutschland unter den Nationalsozialisten nicht mehr ausstellen konnte.
Lesetipp: Diese und andere Geschichten rund um Karl Im Obersteg sowie zahlreiche ausführliche Bildbeschreibungen finden Sie im Katalog zur Ausstellung "Picasso, Chagall, Jawlensky", erhältlich in unserem Online Shop.