NEUBAU / 29.03.–10.08.2025 / Kuratorinnen: Heike Eipeldauer, Elena Filipovic
Bildhauer, Fotograf und Meister kunstvoller Inszenierungen, Konkurrent von Auguste Rodin und Vorbild für zahlreiche Künstler:innen: Medardo Rosso (1858 in Turin, Italien–1928 in Mailand, Italien) revolutionierte um 1900 die Bildhauerei. Trotz seines grossen Einflusses ist der italienisch-französische Künstler heute zu wenig bekannt. Die Ausstellung Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur will dies ändern. Die umfassende Retrospektive im Kunstmuseum Basel bietet anhand von ca. 50 plastischen Werken und rund 250 Fotografien und Zeichnungen die seltene Gelegenheit, Rossos Schaffen in einer Überblicksausstellung zu entdecken. Sie lädt dazu ein, mehr über sein wegweisendes Wirken in Mailand und Paris um die Jahrhundertwende, aber auch über die zeitgenössische Bedeutung seiner Kunst zu erfahren und bietet zugleich die Grundlage, die Geschichte der modernen Skulptur neu zu ergründen.
Die Ausstellung, die in Kooperation mit dem mumok (Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien) entstanden ist und gemeinsam von Heike Eipeldauer und Elena Filipovic kuratiert wurde, ermöglicht es, Rossos radikale und medienübergreifende Erkundungen von Form (und Formlosigkeit), Material und Technik nachzuvollziehen. Die enorme und bis heute anhaltende Wirkungskraft seines künstlerischen Schaffens offenbart sich in der Begegnung mit Werken von mehr als 60 Künstler:innen aus den letzten 100 Jahren, darunter Lynda Benglis, Constantin Brâncuși, Edgar Degas, David Hammons, Eva Hesse, Meret Oppenheim, Auguste Rodin und Alina Szapocznikow.
Zwanzig Jahre nach der ersten und letzten Retrospektive in der Schweiz untersucht die umfassende Ausstellung Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur insbesondere Rossos experimentellen und medienübergreifenden Ansatz. Die Ausstellung versammelt ca. 50 Bronze-, Gips- und Wachsskulpturen des Künstlers, darunter Schlüsselwerke, sowie Hunderte von Fotografien und Zeichnungen. Viele dieser Werke waren in den letzten Jahrzehnten kaum ausserhalb von Italien zu sehen.
Dem Prinzip des vergleichenden Sehens folgend, wie auch Rosso es anwandte, wird sein Schaffen in «Konversation» mit mehr als 60 historischen und zeitgenössischen Fotografien, Gemälden, Skulpturen und Videos gebracht. Dadurch kommt es zu generationenübergreifenden Begegnungen von Künstler:innen aus Rossos Zeit bis zur Gegenwart darunter Francis Bacon, Phyllida Barlow, Louise Bourgeois, Isa Genzken, Alberto Giacometti, Robert Gober, David Hammons, Hans Josephsohn, Yayoi Kusama, Marisa Merz, Bruce Nauman, Senga Nengudi, Richard Serra, Georges Seurat, Paul Thek, Rosemarie Trockel, Hannah Villiger, Andy Warhol, Francesca Woodman und weitere. Die Basler Ausgabe der Ausstellung präsentiert im Vergleich zur Wiener zusätzlich Werke von Umberto Boccioni, Miriam Cahn, Mary Cassatt, Giorgio de Chirico, Marcel Duchamp, Peter Fischli / David Weiss, Sidsel Meineche Hansen, Henry Moore, Meret Oppenheim, Simone Fattal, Giuseppe Penone, Odilon Redon, Pamela Rosenkranz, Felix Gonzalez-Torres, Kaari Upson, Andra Ursuţa und Danh Vō.
Die Ausstellung beginnt bereits im Innenhof des Hauptbaus, wo Rodins Die Bürger von Calais (1884–1889) einer Arbeit von Pamela Rosenkranz gegenübergestellt ist. Durch die unterirdische Verbindung, in der eine raumgreifende Arbeit von Kaari Upson installiert ist, führt der Weg in den Neubau. Dort ist im Erdgeschoss eine monografische Präsentation von Werken Rossos zu sehen. Im zweiten Obergeschoss wird die Ausstellung mit den Gegenüberstellungen mit Werken anderer Künstler:innen fortgesetzt.
Ausgestellte Künstler:innen
Medardo Rosso mit
Giovanni Anselmo (1934–2023)
Francis Bacon (1909–1992)
Nairy Baghramian (*1971)
Olga Balema (*1984)
Phyllida Barlow (1944–2023)
Lynda Benglis (*1941)
Umberto Boccioni (1882–1916)
Louise Bourgeois (1911–2010)
Anton Giulio Bragaglia (1890–1960)
Constantin Brâncuși (1876–1957)
Miriam Cahn (*1949)
Eugène Carrière (1849–1906)
Paul Cézanne (1839–1906)
Giorgio de Chirico (1888–1978)
Edgar Degas (1834–1917)
Jean Dubuffet (1901–1985)
Marcel Duchamp (1887–1968)
Raymond Duchamp–Villon (1876–1918)
Luciano Fabro (1936–2007)
Simone Fattal (*1942)
Peter Fischli (*1952)
Loïe Fuller (1862–1928)
Isa Genzken (*1948)
Alberto Giacometti (1901-1966)
Robert Gober (*1954)
Felix Gonzalez-Torres (1957–1996)
David Hammons (*1943)
Eva Hesse (1936–1970)
Jasper Johns (*1930)
Hans Josephsohn (1920–2012)
Ellsworth Kelly (1923–2015)
Käthe Kollwitz (1867–1945)
Yayoi Kusama (*1929)
Maria Lassnig (1919–2014)
Sherrie Levine (*1947)
Matthijs Maris (1839–1917)
Sidsel Meineche Hansen (*1981)
Marisa Merz (1926–2019)
Amedeo Modigliani (1884–1920)
Henry Moore (1898–1986)
Robert Morris (1931–2018)
Juan Muñoz (1953–2001)
Bruce Nauman (*1941)
Senga Nengudi (*1943)
Meret Oppenheim (1913-1985)
Giuseppe Penone (*1947)
Carol Rama (1918–2015)
Odilon Redon (1840–1916)
Auguste Rodin (1840–1917)
Pamela Rosenkranz (*1979)
Richard Serra (1938–2024)
Georges Seurat (1859–1891)
Erin Shirreff (*1975)
Edward Steichen (1879–1973)
Alina Szapocznikow (1926–1973)
Paul Thek (1933–1988)
Rosemarie Trockel (*1952)
Kaari Upson (1970–2021)
Andra Ursuţa (*1979)
Hannah Villiger (1951–1997)
Danh Vō (*1975)
Andy Warhol (1928–1987)
Rebecca Warren (*1965)
David Weiss (1946–2012)
Francesca Woodman (1958–1981)
Schliessen
Räume
Raum Erdgeschoss: Fotografie
Der Kunstkritiker Ludwig Hevesi bezeichnete Medardo Rosso 1905 als Schöpfer «eine[r] Art Photoskulptur». Damit spielte er auf die schwer zu fassende und verschwommene Qualität seiner skulpturalen Formen an. Angesichts Rossos Augenmerk auf den flüchtigen Moment war die intensive Beschäftigung mit Fotografie für den Künstler wohl unvermeidbar.
Bemerkenswert für seine Zeit integrierte Rosso die Fotografie als wesentlichen Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit. Anders als beispielsweise Auguste Rodin, der zur eindrucksvollen Dokumentation und Bewerbung seiner Werke bekannte Fotograf:innen beauftragte, bestand Rosso darauf, seine Plastiken selbst zu fotografieren. Die eigentümlichen, oft sehr kleinen Aufnahmen und die Art und Weise, wie sie zugeschnitten und collagiert sind, belegen Rossos experimentellen Eingriffe innerhalb und ausserhalb der Dunkelkammer. Ab 1900 benutzte er Fotografie nicht nur zur Inszenierung seiner Plastiken, sondern auch um herauszufinden, wie Perspektive, Beleuchtung und Bildausschnitt ihre Wahrnehmung veränderten. Er passte seine Gussformen dementsprechend an und fotografierte die neuen Ergebnisse. Fotografie wurde in Rossos Händen zu etwas, das Veränderung sowohl aufzeichnete als auch auslöste.
Ab 1902 stellte Rosso seine Fotografien gemeinsam mit seinen Plastiken aus, da er sie als weit mehr als nur Dokumentationsmaterial verstand. Von den 500 bekannten Fotografien, die er geschaffen und veröffentlicht hat, wird hier etwa die Hälfte gezeigt. Dazu gehören historische Abzüge mit handschriftlichen Anmerkungen sowie Glasnegative mit ihren späteren Abzügen.
Schliessen
Raum Erdgeschoss: Inszenierung
Für Medardo Rosso war nicht nur die Schaffung einer Skulptur Teil der künstlerischen Arbeit, sondern genauso wichtig war ihre genaue Inszenierung. In der Mitte des Ausstellungsraums befindet sich eine Auswahl seiner Plastiken auf historischen Sockeln, wie der Künstler sie bevorzugte. Darunter seine «gabbie» (italienisch für Käfige) beziehungsweise Vitrinen. Diese verleihen den Arbeiten eine Rahmung, aber sie definieren auch die Luft und den Raum ihrer Umgebung als Teil des Werks. Zeitlebens gab Rosso streng kontrollierte Frontalansichten für seine Werke vor. Er betonte bestimmte Perspektiven und vermied andere; nur selten waren die Rückseiten zu sehen. Damit weicht die Anordnung der Werke in diesem Raum bewusst von Rossos Vorgehen ab: Die uneingeschränkte Begegnung mit den Plastiken von allen Seiten enthüllt die Spuren seines kreativen Prozesses, hebt die Materialität hervor und gewährt Einblick in die Radikalität seiner Formgebung.
Rossos Herangehensweise an die Präsentation ist von weiteren Eigenheiten gekennzeichnet. In seinen Fotografien wird deutlich, wie eng er seine Plastiken gruppierte – mit unterschiedlichen Höhen und inszenierten Dialogen zwischen den eigenen Werken sowie denen von anderen Künstler:innen. In Einklang mit diesen Strategien wird Rossos Portrait d’Henri Rouart (Porträt von Henri Rouart, 1890) neben Auguste Rodins Torse (Torso, 1878–1879) und Paul Cezannes Cinq baigneuses (Fünf Badende, 1885/1887) gezeigt. Derlei Gegenüberstellungen erprobte Rosso seinerzeit selbst. In den Ausstellungsräumen im zweiten Stock treffen seine Plastiken auf Werke von Künstler:innen seiner Zeit bis heute. Dadurch werden die zentralen Anliegen von Rosso – Dialog und Inszenierung – aufgegriffen und zugleich die ungebrochene Modernität seiner Kunst betont
Schliessen
Raum 1: Wiederholung und Variation
Seit den späten 1890er Jahren schöpfte Medardo Rosso aus einem Repertoire von ungefähr 40 bildhauerischen Motiven. Bis zu seinem Tod beschäftigte er sich mit ihnen in Wiederholungsschleifen seiner Arbeitsprozesse: Er goss neue Variationen, überarbeitete die Oberflächen und fertigte Fotografien an, um dann wieder von vorne anzufangen. Rosso arbeitete mit verschiedenen Techniken der Reproduktion und goss seine Plastiken oft selbst, anstatt sie von Giessereien ausführen zu lassen. Diese zahlreichen Versionen stehen im Widerspruch zu der Vorstellung von der einzigen, endgültigen Fassung eines Kunstwerks.
Rossos meistreproduzierte Plastik, Enfant juif (Jüdisches Kind, 1893), ist ein Beispiel dafür. Obwohl mechanisch gegossen, weist jede Ausgabe subtile Unterschiede in Material, Farbe, Oberfläche sowie im Blick und in der Neigung des Kopfes auf. Was andere Künstler:innen als serielles Objekt behandelt hätten, wird bei Rosso zum einmaligen Kunstwerk. Seine Resultate verwischen die Grenze zwischen Original und Kopie, wobei jedes Werk eine unverwechselbare Aura ausstrahlt.
Jahrzehnte später griffen Kunst-Bewegungen wie Pop-Art, Minimal Art und Appropriation Art genau diese Fragestellung auf. Andy Warhols und Sherrie Levines’ Abhandlungen zur Massenproduktion beziehungsweise -reproduktion teilen sich den Raum mit sechs Ausführungen von Enfant juif sowie mit Sidsel Meineche Hansens Werk, das als Gussform eine religiöse Figur endlos reproduzieren könnte. Auf unterschiedliche Weise deutet jedes dieser Kunstwerke auf das Spannungsverhältnis zwischen Einzigartigkeit und Serialität hin.
Schliessen
Raum 2: Anti-Monumentalität
Medardo Rosso betrachtete Skulptur nicht als starr und monumental, sondern als flüchtig und veränderbar. Radikal brach er mit der damals gängigen europäischen Bildhauerkunst. Er lehnte Beständigkeit zugunsten von Vergänglichkeit ab, die glorreiche Geste zugunsten der intimen. Seine Figuren sind klein, provisorisch und schwer zu fassen – ein Gegenentwurf zu den heroischen Denkmälern seiner Zeit. Auch ihre Materialität widersetzt sich der Tradition: Rosso bevorzugte Wachs und Gips, die als Werkstoffe üblicherweise für Vormodelle verwendet wurden. Nachgiebig und verletzlich trotzen sie den Ansprüchen von Dauerhaftigkeit und Mächtigkeit an die monumentale Skulptur.
Auch Rossos Motivwahl verweigert sich der Überhöhung: Keine Herrscher:innen, keine Berühmtheiten – stattdessen arbeitende, arbeitslose, übersehene Personen. Es war eine leise, aber grundsätzliche Ablehnung der historischen Rolle, die Skulptur bei der Verherrlichung von Macht spielt.
Rossos Erbe wirkt nach. Edgar Degas’ nahezu gleichzeitig entstandene Darstellung eines gefallenen Jockeys greift ebenso wie Simone Fattals zerklüftete und ungeformte Skulptur einer Göttin und Richard Serras prekär ausbalancierte Stahlstange die Mittel auf, mit denen Rosso vorherrschende Auffassungen untergrub. Für Rosso bestand keine Notwendigkeit, einen Absturz bildhaft darzustellen; seine Figuren schwanken bereits am Abgrund, als ob das Material seine Standfestigkeit eingebüsst hätte.
Schliessen
Raum 3: Prozess und Performance
Im Laufe seiner Karriere bewegte sich Medardo Rossos Aufmerksamkeit immer stärker weg von der Vorstellung eines abgeschlossenen, fertigen Kunstwerks hin zu den Vorgängen bei ihrer Entstehung: dem Material, dem Prozess und dem im künstlerischen Schaffen angelegten Ereignis-charakter. Er hinterliess auf den Werken Fingerabdrücke, Messerspuren, Gussnähte und zufällig entstandene Risse – nicht als Produktionsfehler, sondern als Nachweis für den Entstehungsprozess. Statt sich wie die meisten seiner Zeitgenoss:innen auf Giessereien zu verlassen, legte Rosso beim Giessen seiner Werke selbst Hand an. Das ging so weit, dass er in seinem Atelier sogar spektakuläre Kunstguss-Vorführungen vor ausgewählten Personen machte.
Rossos wiederholte Rückkehr zu lachenden Figuren ist dem Versuch geschuldet, auch die flüchtigsten Gesten einzufangen. Er hat diese Momente nicht nur bildhauerisch festgehalten, sondern sie auch durch fotografische Sequenzen wieder in Bewegung versetzt. Diese Technik nahm die flimmernde Dynamik von Anton Giulio Bragaglias hier gezeigten Fotografien vorweg. Die Anspannung einer eingeschränkten Bewegung fliesst durch Giovanni Anselmos in sich verdrehte Form, bei der ein schweres Gewicht straff von einer kontrollierten Gegenkraft im Zaum gehalten wird. Eine ähnliche Balance zwischen Spannung und Entspannung vermitteln Senga Nengudis Nylon-und-Sand-Skulpturen, die seit den 1970er Jahren wesentlicher Bestandteil ihrer Performances sind. Sie dehnen sich, hängen durch und lassen sich nieder – wie Körper in Bewegung.
Schliessen
Raum 4: Berühren, Umarmen, Formen
Aetas aurea (Goldenes Zeitalter, 1886) von Medardo Rosso zeigt die Ehefrau des Künstlers in inniger Umarmung mit ihrem Sohn. In den verschiedenen Abgüssen und Fotografien verändert sich diese Beziehung wie auch diejenige zum Raum, der sie umgibt: Manchmal verschmelzen Mutter und Kind miteinander, ein anderes Mal scheinen sie sich in der Umgebung aufzulösen – ein Effekt, dem Rosso immer wieder nachging. Bei näherer Betrachtung erkennt man die Hand der Mutter, sanft an die Wange des Kindes gedrückt. Dieser Gestus erinnert an die formgebende Berührung des Bildhauers.
Auch bei den hier gezeigten Werken anderer Künstler:innen ist Berührung mehr als eine künstlerische Geste, sondern eine Kraft, welche die Grenzen zwischen Künstler:in und Medium, Eltern und Kind, Motiv und Form verwischen lässt. Phyllida Barlows vergängliche Assemblagen, von denen heute nur noch Fotodokumentationen existieren, sind nachts entstanden und von den Berührungen ihrer damals noch kleinen Kinder inspiriert. Louise Bourgeois’ aus Stoff genähte Eltern- und Kinderfiguren sind in einer erdrückenden Umarmung verschlungen und verwandeln mütterliche Zärtlichkeit in eine plastische Verstrickung. Währenddessen wird bei Alina Szapocznikows Abguss ihres Sohnes aus einer Liebkosung ein Abdruck, in der die Mutter-Kind-Beziehung spukt. Ob genäht, gegossen oder modelliert, diese Werke machen Berührung und elterliche «Fürsorge» auf beunruhigende Weise greifbar.
Schliessen
Raum 5: Erscheinen und Verschwinden I
Ein konstantes Anliegen von Medardo Rosso war es, einen flüchtigen Augenblick festzuhalten. Um dies zu erreichen, experimentierte er mit der Positionierung und der Beleuchtung seiner Werke. Zudem versah Rosso seine Gipsplastiken oft mit einer Schicht aus durchscheinendem Wachs – beim Bewegen um sie herum entsteht der Eindruck, dass sich ihre Form verändert. Aber zweifellos war es wohl erst die Fotografie, die ihn dazu befähigte, die Flüchtigkeit der Wahrnehmung umfassender zu erkunden.
Bei Rossos Ecce Puer (Seht das Kind, 1906) – dem letzten vom Künstler neu geschaffenen Bildmotiv – zeigt sich die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit des Augenblicks besonders deutlich. Unabhängig vom verwendeten Material erscheint das Gesicht des Kindes fast ätherisch: Es ist mehr angedeutet als detailliert ausgearbeitet. Auf Fotografien verschwimmen die Unschärfen der Gesichtskonturen noch mehr, und das eingesetzte Licht scheint einen Schleier darüberzulegen. Dieses Wechselspiel von Erscheinen und Verschwinden findet seinen radikalsten Ausdruck in der Plastik Madame X (1896?). Sie ist hier in Rossos fotografischen Aufnahmen präsent sowie in Erin Shirreffs Hommage an das Werk in Form einer Videoarbeit von 2013. Letztere protokolliert in 132 Standaufnahmen den sich verändernden Lichteinfall auf einer historischen Aufnahme von Madame X. Durch die Verwandlung der abstraktesten Plastik von Rosso in ein flackerndes Spiel aus Licht und Schatten greift das Video die für Rossos Kunst so bedeutsame Frage nach der Auflösung von Form auf.
Schliessen
Raum 6: Erscheinen und Verschwinden II
Eindeutige Darstellung ist bei Medardo Rosso schwer auszumachen. Licht verleiht den schroffen Kanten und kaum geschönten Materialien seiner Plastiken Form, während Schatten die Umrisse ihrer Gestalt infrage stellen. Gesichter treten schemenhaft hervor, nur um genauso schnell wieder zu verschwimmen und zu entgleiten. Der Bildhauer Constantin Brâncuși, der Rossos Werk vermutlich 1904 in einer Pariser Ausstellung sah, betrachtete ihn als ein wichtiges Vorbild. Denn auch wenn Rossos raue Oberflächen im Gegensatz zu Brâncușis geglätteten Formen zu stehen scheinen, so lieferte Rosso doch ein Modell dafür, wie sich Skulptur im Raum auflösen kann, anstatt ihn nur zu besetzen. Aber eben auch dafür, wie Fotografie eine Erweiterung der skulpturalen Form sein kann.
Das Konzept einer Form, die sich in Auflösung befindet, ob tatsächlich oder nur in der Wahrnehmbarkeit, wurde über Generationen hinweg und in verschiedenen Zusammenhängen verhandelt. Indem David Hammons Haarreste aus einem Friseurladen in Harlem, New York, auf einen Stein klebte, beschwört er einen Schwarzen Kopf herauf, der zwischen Abstraktion und Wiedererkennung schwankt. Darin liegt eine Ökonomie der Form, welche an Rosso und Brâncuși erinnert und zugleich der Aneignung afrikanischer Kunst durch die Moderne die Stirn bietet. Felix Gonzalez-Torres’ Werk wiederum ist durchdrungen von den Grundmotiven von Verlust und Erneuerung: Eine auf den an AIDS erkrankten Körper seines Freundes Bezug nehmende Anhäufung von Bonbons verändert ständig ihre Form, wenn Besuchende sich an den Süssigkeiten bedienen, die immer wieder nachgefüllt werden.
Schliessen
Raum 7: Mise en Scène
Verändert die Art und Weise, unter welchen Rahmenbedingungen Kunst gezeigt wird, ihre Wahrnehmung? Medardo Rosso war überzeugt, dass nichts für sich allein existiert. Deshalb konzipierte er nicht nur einen Diskursraum für seine Werke (durch Kunstwerke von anderen, Fotografien oder Texte), sondern legte auch die Umstände ihrer Präsentation akribisch fest. Er installierte seine Plastiken unter speziell angefertigten Glas-hauben auf Sockeln aus Holz (wie im Erdgeschoss zu sehen). Diese waren nicht nur schützende Umrahmungen, sondern sorgfältig in Szene gesetzte Situationen. Sie legten die visuellen Grenzen fest und lenkten den Blick der Betrachtenden. Die Art der Präsentation war für Rosso wesentlich für den Bedeutungszusammenhang.
Rossos Ansatz stiess auf Widerhall bei späteren Künstler:innen, bei denen Rahmenbedingungen im Werk verhandelt werden. Francesca Woodman hat sich selbst wiederholt innerhalb von Architektur und zur Möblierung positioniert, bis die Umgebung und die eigene Gestalt eins wurden und sie das Bild als Fotografie «einfror». Auch Paul Thek machte die Rahmung zu einem künstlerischen Statement, indem er seine unheimlichen skulpturalen Nachbildungen von rohem Fleisch in Vitrinen versiegelte. Thek versuchte, ähnlich zu Rosso, sich verändernde, amorphe Formen festzuhalten. Marcel Duchamp seinerseits baute tragbare Schaukästen, die als kleinformatige Retrospektiven seines Werks dienten. Wie Rosso war er sich bewusst, dass der Kontext den Inhalt beeinflusst.
Schliessen
Raum 8: Ungestalt I
«Gasförmig» – so hat ein Kritiker Medardo Rossos Plastiken einst treffend beschrieben, trotz ihrer starken physischen Präsenz. Für Rosso bedeutete Materialität alles, sogar bei seinem Bestreben nach der Aufhebung von Form. Seine Plastiken entziehen sich einer Festlegung – selbst, wenn sie für einen Moment Gestalt annehmen, sind sie im nächsten schon wieder im Auflösen begriffen. Dies wird deutlich bei Portinaia (Pförtnerin, 1883–1884) und bei Madame Noblet (1897), deren modellierte Schauseiten fast genau-so rau und ungeformt aussehen wie die Rückseiten anderer Plastiken von Rosso. Sein Malato all’ospedale (Kranker Mann im Spital, 1889) geht noch weiter. Rossos Verwendung von Wachs, traditionell mit Totenmasken oder einbalsamierten Körpern in Verbindung gebracht, trägt bei diesem Werk zum Gefühl von Sterblichkeit und Vergänglichkeit bei.
Seit den 1960er Jahren zieht sich Formlosigkeit wie ein roter Faden durch die Werke von Künstler:innen wie Isa Genzken, Yayoi Kusama, Robert Morris, Carol Rama und Alina Szapocznikow. Sie testeten auf ihre jeweilige Art und Weise aus, ob Skulptur die Fähigkeit hat, sich wie ein Körper zu verhalten, der sich fliessend verändert – biegsam, triefend, möglicherweise abstossend und schlussendlich instabil.
Schliessen
Raum 9: Ungestalt II
Zeichnen diente Medardo Rosso nicht nur zur Vorbereitung, sondern auch zur Fortsetzung jener Fragen, die ihn als Bildhauer und Fotografen beschäftigten. In seinen kleinformatigen Zeichnungen ging es ihm weniger um genaue Darstellung als vielmehr um flüchtige Eindrücke von Orten, Figuren und Formen. Diese skizzierte Rosso schemenhaft mit schnellen, zackigen Linien auf Einladungskarten, Briefumschläge oder Speisekarten. Um die Bedeutung dieser eher unwichtig erscheinenden Werke für ihn hervorzuheben, fotografierte er sie und stellte sie aus.
In Rossos Werk entzieht sich das Schwerzuerkennende einer eindeutigen Beschreibung – unabhängig vom künstlerischen Medium. Besonders deutlich wird dies bei Enfant au sein (Kind an der Brust, 1890), eine seiner radikalsten Plastiken. Die beiden einzigen von Rosso gemachten Bronze-fassungen wenden sich dem klassischen Mutter-Kind-Motiv zu, das jedoch in einer undefinierten Masse unterzugehen scheint. Erst auf den zweiten Blick ist der Kopf eines Kindes erkennbar, das sich, gehalten von den Armen der Mutter, an ihre Brust schmiegt. Frühere Fotografien zeigen, dass der Kopf der Mutter einst ausgeformt war, er aber entweder bewusst entfernt wurde oder versehentlich durch einen Bruch an der Gussform verloren ging. Auf jeden Fall ist diese Abwesenheit nun Teil des Werkes: ein fragmentarischer Hinweis auf Mutter und Kind, miteinander verschmolzen und erstarrt wie in Lava.
Schliessen
Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur wurde kuratiert von Elena Filipovic und Heike Eipeldauer, nach einem Konzept von Heike Eipeldauer und produziert in Zusammenarbeit mit dem mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien.
Szenografie: Büro Meyer-Grohbruegge
Katalog
Der Katalog zur Ausstellung mit Beiträgen von Jo Applin, Birgit Brunk, Georges Didi-Huberman, Heike Eipeldauer, Elena Filipovic, Ines Gebetsroither, Francesco Guzzetti, Karola Kraus, Lisa LeFeuvre, Megan R. Luke, Esmee Postma, Florian Pumhösl, Nina Schallenberg, Francesco Stocchi & Matthew S. Witkovsky
9. April 2025, 18.15–19.45 Uhr, Neubau. Die Künstlerin Nairy Baghramian im Gespräch mit der Kuratorin Elena Filipovic, anlässlich der Sonderausstellung «Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur». Kostenlose Teilnahme, Ticket erforderlich via Ticketlink
Vortrag: Moderne Skulptur durch die Linse der Kamera: Medardo Rosso und Max Klinger
24. April 2025, 18.15–19.45 Uhr, Hauptbau. Anlässlich der Sonderausstellung fokussiert sich Prof. Megan R. Luke auf das Verhältnis von Fotografie und Bildhauerei bei den beiden Künstlern Medardo Rosso (1858–1928) und Max Klinger (1957–1920). Kostenlose Teilnahme, Ticket erforderlich via Ticketlink, auf Englisch
25. April, 18.15–19.45 Uhr, 26. April, 13–17 Uhr, Neubau. Ouvertüre mit Vortrag «The Exhibition Space and the Expansion of Performance» der Künstlerin Alexandra Pirici. Der Vortrag eröffnet das Performance-Festival ACT Basel 25, das am nächsten Tag, Samstag, den 26. April, im Kunstmuseum Basel stattfindet. Kostenlose Teilnahme, Ticket erforderlich via Ticketlink, auf Englisch
Kindervernissage «Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur»: Aus dem Ei gepellt und in Stein gemeisselt
In dieser Kindervernissage lassen wir uns inspirieren von den
Skulpturen des Künstlers Medardo Rosso. Alter: 4–12 Jahren. Kostenlose Teilnahme. In Zusammenarbeit mit den Freunden des Kunstmuseums
Basel.
Lehrer:innen Einführung zur Sonderausstellung «Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur»
Ein dialogischer Ausstellungsrundgang mit pädagogischem Fokus.
Ein dialogischer Ausstellungsrundgang mit pädagogischem Fokus. Wir bieten regelmässig Einführungen zu unseren Sonderausstellungen an, um Anknüpfungspunkte zu Lehrinhalten aufzuzeigen.
Kosten: CHF 15 (inkl. Eintritt)
Wir umrunden ausgewählte Werke zweier Protagonisten, die jeweils auf ihre Art die moderne Skulptur eingeleitet haben. Mit dem Kunstvermittler Andreas Jahn. Kosten: Eintritt
Moderne Skulptur durch die Linse der Kamera: Medardo Rosso und Max Klinger
Vortrag von Prof. Megan R. Luke
Auf Englisch. Anlässlich der Sonderausstellung Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur fokussiert Megan R. Luke das Verhältnis von Fotografie und Bildhauerei bei den beiden Künstlern Medardo Rosso (1858–1928) sowie seinem Zeitgenossen Max Klinger (1957–1920). Kostenlose Teilnahme, Ticket erforderlich via Ticketlink
Neu entwickelte Performances und performative Projekte im Rahmen des jährlichen ACT Performance Festivals der Schweizer Kunsthochschulen. Kostenlose Teilnahme
Mittwoch-Matinée: «Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur»
Ein Ausstellungsrundgang durch die Sonderausstellung, bei
dem wir gemeinsam Rossos Einflüssen auf folgende
Künstler:innen-Generationen nachgehen und uns im
vergleichenden Sehen üben.
Kosten: CHF 10 / bis 16 Jahre: CHF 5.
Beschränkte Platzzahl