16 Feb. 2021
Der öffentliche Raum gehört allen und keinem. Das ist seine Qualität, sein demokratisches Potenzial. Er umfasst das Gebaute und Gestaltete, seine physische Infrastruktur: Architektur, Strassen, Gehwege, Plätze, Parkanlagen sowie Transportmittel wie Zug, Bus, Tram und U-Bahn, sofern sie Staatseigentum und nicht privatisiert sind.
Klara Lidén hat sich mit dem öffentlichen Raum während ihres Studiums an der School of Architecture des KTH Institute of Technology in Stockholm auseinandergesetzt. Ihre Reaktion auf die Veranstaltungen und ihre Herangehensweise erinnerte einen ihrer Dozenten an Street-Art. Street Artists warten nicht auf die weisse Wand im Museum. Sie arbeiten aus eigenem Antrieb mit jedem verfügbaren Mittel, suchen sich ihre Flächen und Räume und zeigen, wie eine Gesellschaft in Ausschlussverfahren funktioniert und wo ihre fatalen Bruchstellen, ihre systemischen Fehler und Tendenzen liegen, Freiheitsrechte einzuschränken und vergessen zu machen.
2003 hat Lidén an einem Seminar zum Thema Stadtentwicklung mit dem Titel «The New Urban Planning Office» teilgenommen, das in der Färgfabriken Art Gallery stattfand. In diesem Kontext ist Lidéns erste Videoarbeit entstanden: «Paralyzed». Auslöser war eine an sie gerichtete Anfrage, einen Talk zum Thema Stadtplanung in Stockholm zu halten. Sie entschied, statt einem Talk das Video eines «dance» in einer Linie der Stockholmer U-Bahn zu zeigen, der von einem/r Freund:in gefilmt wurde. Als Tonspur verwendete sie die erste Tonstudioaufnahme von «Paralyzed», einem etwas mehr als dreiminütigen Stück des legendären Singer-Songwriter Stardust Cowboy.
In der ersten Einstellung zeichnet die Kamera durch das Abteilfenster Baustellen, die entlang der Strecke liegen. Dann wird sie kurzzeitig identisch mit einer Person, die Lidén mit zerrissener Jeans und einem Parka, dessen Hoodie in das Gesicht gezogen ist und unter Vermeidung von Blickkontakt aus dem Fenster schaut, gegenübersitzt. Die Kamera filmt die Performance, bei der Lidén die Oberbekleidung bis auf Shorts, rosa Bluse und Strümpfe abwirft und mit Sitzen, Haltestangen und Gepäckablage interagiert, fragmentarisch und ausschnitthaft mit. Dann wechselt sie auf das Gleis und zeichnet bei nächtlicher Stimmung auf, wie der U-Bahn-Waggon oberirdisch weiterfährt und Lidén mit ballettartigen Sprüngen den Mittelgang durchmisst.
Ab 2003 wurde «Paralyzed» immer wieder gezeigt. Stills des Videos sind mittlerweile zu eigenständigen Arbeiten im Oeuvre von Lidén geworden. Ein Architekturstudium, das darauf gezielt hätte, als Architektin mit öffentlichem Raum zu arbeiten, hat sie nicht weiterverfolgt. 2009 wurde ein manifestartiges Statement veröffentlicht, dessen Copyright bei Reena Spauldings Fine Art liegt, der Galerie, von der Lidén vertreten wird:
«Part of me is this poor architect dealing with the problem of existing structures in the city, part of me is this amateur dancer or performer who wants to return ideas of the rhythm to the activity of the building, or of re-appropriating the built environment. Building is also un-building, recycling or improvising new uses for what´s already been set in places like New York, Berlin or Stockholm. Whether in a museum or in my own apartment, and the question of re-appropriating privatized, urban space always somehow begins with the body, its ways and moving and the temporalities it engages when it goes to work or opens up spaces of non-work in work. There is an idea of play what and what isn´t useful in the activity of building.»
«Paralyzed» wird im Erdgeschoss des Kunstmuseum Basel | Gegenwart in nächster Nähe zu grossformatigen Fotos von Schlafenden gezeigt – Personen, die in der Londoner U-Bahn eingeschlafen und dabei fotografiert worden sind, bevor die Fotos ohne Kenntnis und Erlaubnis der Dargestellten ins Netz gestellt wurden. Von dort hat Mark Wallinger diese autorenlosen «Poor images» aus der Public Domain für die Arbeit «The Unconscious» (2010) verwendet.
Diese Konstellation bietet die Möglichkeit, zur Frage nach zivilgesellschaftlichem Engagement vorzudringen, wo es persönlich wird und nicht mehr um die anderen geht; zu Fragen, wie man sich selbst in der aktuellen, gesellschaftspolitischen Gegenwart verhält, und wo die eigene Verantwortung als ein Körper im öffentlichen Raum liegt.
Autorin: Stefanie Manthey, Kunsthistorikerin, Kunstvermittlerin und freie Autorin