08 Apr. 2020
Die Abteilung Provenienzforschung am Kunstmuseum Basel beschäftigt zur Zeit vier wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, davon eine in Vollzeit sowie drei in Teilzeit, deren Stellen weitgehend durch Drittmittel finanziert sind. Wir haben sie anlässlich des heutigen Internationalen Tages der Provenienzforschung zu ihrer Arbeit befragt.
Was genau bedeutet Provenienzforschung und warum ist sie wichtig?
Joanna Smalcerz: Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Erforschung der Herkunft und den vergangenen Eigentümerwechseln der Kunstobjekte und Kulturgütern. Dies ist informativ, da beispielsweise aufgedeckt werden kann, dass eine derzeit einzeln vorliegende Tafel ursprünglich Teil eines Altars war. Noch wichtiger ist die Transparenz darüber, wie Kunstobjekte ihre Besitzer wechselten und wie sie in Sammlungen gelangten. Da Kunstwerke im Allgemeinen sehr wertvolle Objekte sind, können sie mit grösserer Wahrscheinlichkeit gestohlen, beschlagnahmt, unter Zwang verkauft oder illegal versetzt werden. Die Provenienzforschung rekonstruiert die Flugbahnen von Objekten und die Biografien ihrer Besitzer, um festzustellen, ob ihre Vergangenheit frei von Unrecht ist.
Warum bist Du Provenienzforscherin geworden?
Vanessa von Kolpinski: Initial bin ich da über das Studium und über ein Praktikum bei Sotheby’s in London – sagen wir – „reingerutscht“. Grund dafür, dass ich dabei geblieben bin, ist die Vielfalt der Disziplinen: Man forscht nicht nur als Kunsthistorikerin zu einem Objekt, sondern beschäftigt sich auch mit Sammlungsgeschichte, mit den historischen Strukturen in unterschiedlichen Ländern während der NS-Zeit sowie mit sozial-philosophischen, zum Teil wirtschaftlichen wie auch rechtlichen Fragen. Das finde ich ungemein spannend!
Ist man mehr Jurist oder Kunsthistoriker?
Lena Lehmann: Kunsthistoriker. Bei der Provenienzforschung kann die Frage nach Recht und Unrecht zunächst beiseite gestellt werden. Sie hat in der wissenschaftlichen Forschung erst einmal gar nichts verloren. Provenienzforscher untersuchen im Dienst der Wahrheit die historischen Fakten. Ein juristisches Urteil im Dienst der Gerechtigkeit kann auch erst auf der Basis der gründlich geklärten Fakten vorgenommen werden.
Gibt es eine rechtlich bindende Grundlage? International oder schweizweit?
Katharina Georgi-Schaub: Die Situation ist international nicht einheitlich geregelt. Eine rechtlich bindende Grundlage, welche Provenienzforschung vorschreibt und in der Konsequenz auch die Frage von Restitution regelt, gibt es etwa in Österreich mit dem Kunstrückgabegesetz, nicht aber bei uns in der Schweiz. Die Schweiz hat allerdings 1998 zusammen mit 44 Staaten die Washingtoner Erklärung unterzeichnet. Mit dieser verpflichten die Unterzeichner sich zu einer aktiven Beteiligung an der Identifizierung von NS-Raubgut (also zur Erforschung der Provenienzen) und dazu, nach „fairen“ und „gerechten“ Lösungen zu suchen, wo Raub oder verfolgungsbedingter Verlust von Kulturgütern ermittelt wurde.
Gibt es Werke, auf die man sich speziell fokussiert? Wie werden sie ausgesucht?
JS: Generell sind die ersten zu erforschenden Objekte solche, die in die Sammlung in der Zeit des NS-Regimes zwischen 1933 und 1945 aufgenommen wurden oder in dieser Periode von beispiellosen Plünderungen von Kunst, rechtswidriger Beschlagnahme von Privateigentum und internationalem illegalen Kunsthandel ihre Besitzer gewechselt haben. Innerhalb solcher Pools erfordern Werke mit Namen jüdischer Vorbesitzer und Kollaborateuren besonders sorgfältige Forschung. Werke einiger Künstler, zum Beispiel der französischen Impressionisten oder Kubisten, könnten ebenfalls potenziell problematisch sein, da sie zur Zeit der Machtübernahme bereits sehr hohe Preise erzielten und somit während des Krieges wertvolle Vermögenswerte waren, die für alle Arten von illegalen Geschäften eine Verlockung darstellten.
Wie viel Zeit investiert die Abteilung Provenienzforschung in ein Werk?
VK: Das hängt sehr von den einzelnen Objekten ab. Viele Provenienzen im Museumskontext kann man anhand der internen Dokumentation schnell klären. Die Geschichte eines Werks für die Zeit zwischen 1933-1945 zu etablieren, kann aber vor allem bei internationalen Werken Monate, gar Jahre brauchen oder überhaupt nicht gelingen, je nach Zugang zu Archiven, Zusammenarbeit zwischen Forschern und dem (nicht) vorhandenen Forschungskontext.
Gibt es Provenienzforschung schon lange?
JS: Die Provenienzforschung ist seit der Etablierung der Kunstgeschichte als Disziplin im 19. Jahrhundert Teil der Forschung zu Kunstwerken, da sie eine der Möglichkeiten darstellt, ein Kunstwerk zu authentifizieren oder zuzuordnen. Bekannte Herkunft trägt zum Wert eines Kunstobjekts bei. Erforschung der Provenienz ist aus diesen Gründen Teil der Sammlungskultur und wird seit dem 17. Jahrhundert in unterschiedlichem Masse im Kunsthandel praktiziert. Neue Impulse und wachsende, institutionelle Bedeutung bekam die Provenienzforschung mit der Washingtoner Erklärung von 1998 und dem internationalen Engagement, die Kunst zu identifizieren, die während der Zeit des NS-Regimes auf die eine oder andere Weise illegal den Besitzer wechselte.
Kann sich die Provenienz auf den Wert eines Werkes auswirken?
JS: Ja, auf jeden Fall. Zum Beispiel waren Kunstwerke mit königlicher Herkunft schon immer gefragter als andere. Die amerikanischen nouveaux riches Tycoons des späten 19. Jahrhunderts suchten nach Kunstwerken aus den europäischen Oberklassen, was deren Preise erheblich steigerte. Sammler kauften, auch heute noch, sehr oft nicht nur Objekte an sich, sondern auch den Namen der ehemaligen Besitzer, um ihren eigenen Status zu verbessern, indem sie zeigen, dass sie denselben etablierten guten Geschmack haben. Es ist ein gut erforschtes und beschriebenes soziologisches Phänomen. Andererseits kann eine Provenienz, die eine rechtswidrige Handlung beinhaltet, heute mehr denn je den Marktwert eines Kunstwerks zunichte machen.
Hat Provenienzforschung etwas mit Moral zu tun?
LL: Insbesondere hinsichtlich der Aufklärung von Raubkunst hat Provenienzforschung sehr viel mit Moral zu tun. Moral braucht es vor allem dort, wo das Gesetz nicht ganz hinreicht. Wie Katharina bereits sagte: Mit den Washingtoner Prinzipien einigte sich die Schweiz 1998 zusammen mit weiteren Staaten nicht auf eine Gesetzesgrundlage, sondern auf “nicht bindende Richtlinien”, die letztlich nur wegweisend sind für das Vorgehen der Forschung und die Findung von fairen Lösungen durch die Beteiligten. Allein der Begriff einer “fairen Lösung” ist breit gefasst und abhängig von der Auslegung der betroffenen Parteien. Die Richtlinien sind somit ein Appell an die Moral der Forscher, an die Moral der Museen und die Moral des Staates, der eine solche Forschung durch die Museen oftmals finanziell überhaupt erst ermöglicht.
Darüber hinaus ist die Provenienzforschung aber auch eigennütziger Wissensgewinn und gehört in der Schweizer Museumswelt mittlerweile zum guten Ton.
Wie unterscheidet sich die Provenienzforschung in verschiedenen Institutionen?
VK: Hier muss man zwischen Projektarbeit und festen Stellen unterscheiden. Bei befristeten Projekten in Museen und Institutionen muss man damit rechnen, dass unter grösserem Zeitdruck gearbeitet wird, und dass Material, das erst nach Abschluss des Projekts zur Verfügung steht, u.U. erst spät oder gar nicht eingearbeitet wird, weil die Expertise nicht dauerhaft am Haus verfügbar ist. Allerdings ist nur durch Projektförderungen, bspw. durchs Bundesamt für Kultur (BAK), für viele vertiefte Forschung in diesem Bereich überhaupt möglich, da die Kurator:innen nur bedingt Kapazitäten dafür aufwenden können. Feste Stellen in der Provenienzforschung hingegen haben natürlich den Vorteil, dass auch langwierige Recherchen begleitet und museumsinterne wie übergreifende Strukturen für die allgemeine Forschung besser aufgearbeitet werden können.
Was sind die wichtigsten Quellen?
KG: Die wichtigste Quelle ist zunächst einmal das Werk selbst, das man sich genau anschauen muss. Häufig finden sich bereits auf dessen Rückseite erste Vermerke zur Herkunft, wie etwa Stempel, Etiketten von Galerien oder Ausstellungen, alte Inventarnummern – oder auch einmal Hinweise darauf, dass jemand versucht hat, solche Informationen zu tilgen. Parallel dazu sichten wir die Dokumentation im hauseigenen Archiv: Aufschlussreich sind neben Inventarbüchern und -karten, Rechnungsbüchern und Korrespondenzen v.a. die Protokolle der Kunstkommission, die über jeden Ankauf bzw. die Annahme von Geschenken und Vermächtnissen berät. Zudem recherchieren wir in alten Auktions- und Ausstellungskatalogen, und häufig führt uns der Weg auch in externe Archive. Dass mittlerweile immer mehr Findmittel und Datenbanken online verfügbar sind, erleichtert die Arbeit dabei ungemein.
Was sind Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen?
KG: Manchmal besteht das erste Problem bereits darin, ein Werk eindeutig zu identifizieren. Wenn es etwa mehrere Titelvarianten gibt, wenn Massangaben in alten Verzeichnissen fehlen oder wenn ein Werk in mehreren Fassungen oder Exemplaren existiert. Eine allgegenwärtige Herausforderung ist es zudem abzuwägen, ob der Zeitaufwand lohnt, dieser oder jener Piste nachzugehen, denn viele Bemühungen enden in einer Sackgasse.
Und: Wenn wir versuchen, Licht in die Besitzgeschichte eines Werks in den Jahren zwischen 1933 und 1945 zu bringen, dann liegt diese Zeit eben nicht einfach nur mittlerweile zwei bis drei Generationen zurück. Vielmehr haben wir es, wie bereits mehrfach angeklungen, möglicherweise auch mit den Auswirkungen eines verbrecherischen Regimes zu tun, mit Krieg, Verfolgung, Flucht und einem unter diesen Voraussetzungen nach ganz anderen Regeln funktionierenden Kunstmarkt. Dass sich hier manch entscheidende Quelle verloren hat und manch Puzzleteil vielleicht nie mehr zum Vorschein kommen wird, müssen wir akzeptieren.
Wenn Sie mehr über die Provenienzforschung erfahren möchten, kommen Sie morgen und am Freitag wieder, um zwei Fallstudien aus unserer Sammlung zu lesen.