Wie haben Künstler:innen des afrikanischen Kontinents und seiner Diaspora den Alltag in den letzten 100 Jahren erlebt und künstlerisch verarbeitet? Um diese Frage zu beantworten, unternahm das Team rund um Koyo Kouoh, Direktorin und leitende Kuratorin des Zeitz MOCAA im südafrikanischen Kapstadt, eine intensive Recherche. Das Resultat ist eine umfassende Schau, die Werke von rund 120 Künstler:innen vereint: Ein Kaleidoskop, das der afrikanischen figurativen Malerei der letzten 100 Jahre gewidmet ist. Damit ist dem Museum eine bahnbrechende Ausstellung geglückt, die gesehen werden will – und die 2024 den Weg ins Kunstmuseum Basel findet.
Der Titel der Ausstellung ist inspiriert von der Netflix-Miniserie When They See Us (2019) der afroamerikanischen Regisseurin Ava DuVernay, in der thematisiert wird, wie Schwarze Jugendliche von Weissen als potenzielle Verbrecher:innen und damit als Bedrohung gesehen werden. Der Austausch des «They» zu «We» im Ausstellungstitel steht für eine Umkehr der Perspektive: Die ausgestellten Werke rücken die Sichtweise der Künstler:innen ins Zentrum. Die über 150 Kunstwerke werden in sechs Kapitel eingeteilt. Sie tragen die Titel «Alltag», «Freude und Ausgelassenheit», «Ruhe», «Sinnlichkeit», «Spiritualität» sowie «Triumph und Emanzipation».
Mit der facettenreichen Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel | Gegenwart möchten wir die figurative Malerei aus Afrika und der afrikanischen Diaspora seit den 1920er Jahren vorstellen. Soundstationen sowie eine stimmungsvolle Szenografie ermöglichen zusätzliche Lesarten. Zudem wird in Kooperation mit Partner:innen ein vielschichtiges Rahmenprogramm angeboten.
Mit Werken von:
Michael Armitage (Kenya / UK)
Njideka Akunyili Crosby (Nigeria / USA)
Romare Bearden (USA)
Ben Enwonwu (Nigeria)
Joy Labinjo (UK)
Jacob Lawrence (USA)
Danielle McKinney (USA)
Sungi Mlengeya (Tansania)
Mmapula Mmakgabo Helen Sebidi (Südafrika)
Chéri Samba (Demokratische Republik Kongo / Frankreich)
Amy Sherald (USA)
Cyprien Tokoudagba (Benin)
Zandile Tshabalala (Südafrika)
Lynette Yiadom-Boakye (UK)
und vielen mehr.
SRF Kultur 29.5.2024
Im Kern dieses Kapitels steht der Stolz auf die eigene Geschichte und auf das Erreichte – trotz widrigster Umstände und jahrhundertelanger Unterdrückung. Die Besucher:innen begegnen im Erdgeschoss des Museums weltbekannten Ikonen wie in Chéri Chérins Gemälde Obama Revolution (2009) auf Augenhöhe mit namenlosen, aber starken Figuren wie in Ibrahim El-Salahis Portrait of a Sudanese Gentleman (1951). Dargestellt sind Personen, die sich um die Kulturgüter der Vorfahren kümmern, oder engagierte Politiker:innen und Menschen, die Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung repräsentieren.
Künstler:innen: Benny Andrews, Margaret Taylor Burroughs, Chéri Chérin, Kudzanai Chiurai, Aboubacar Diané, Ibrahim El-Salahi, Ben Enwonwu, Gherdai Hassell, Wifredo Lam, Akinola Lasekan, Mustafa Maluka, Eria Nsubuga ‘Sane’, Augustin Okoye, George Pemba, Chéri Samba, Mmapula Mmakgabo Helen Sebidi, Gerard Sekoto, Katlego Tlabela, Cyprien Tokoudagba
In Sinnlichkeit werden Schwarze Körper auf eine intime und selbstbewusste Weise gezeigt, wie sie der westliche Bilderkanon kaum je zugelassen hat. Roméo Mivekannins Le modèle noir, d’après Félix Vallotton (2019) nimmt direkt Bezug auf diesen Kanon, ebenso wie Sahara Longes Reclining Nude with Lemon (2021). Das Kapitel zeigt die vielseitigen Spektren von Sinnlichkeit, Liebe und intimer Zuneigung. Gemeinsam ist allen Werken das Selbstbestimmte der Akteur:innen.
Künstler:innen: Nina Chanel Abney, Olusegun Adejumo, Tunji Adeniyi-Jones, Maxwell Alexandre, Tiffany Alfonseca, Dominic Chambers, Somaya Critchlow, Njideka Akunyili Crosby, Elladj Lincy Deloumeaux, Aboubacar Diané, Ibrahima Kébé, Yoyo Lander, Sahara Longe, Danielle McKinney, Roméo Mivekannin, Moké, Geoffrey Mukasa, Chris Ofili, Kambui Olujimi, Tschabalala Self, Monsengo Shula, Mickalene Thomas, Bob Thompson, Kehinde Wiley
Ein Schwarzer Alltag ohne Spiritualität ist gemäss den Kuratorinnen kaum denkbar. Das Kapitel steht für das «dreifache Erbe», das der kenianisch-amerikanische Schriftsteller Ali Mazrui (1933–2014) in seinem Buch The Africans: A Triple Heritage beschrieben hat: ‘Black Life’ in seiner Durchlässigkeit für einheimische, islamische sowie christliche Traditionen und Rituale. Die hier präsentierten Werke zeigen gelebte Spiritualität, darunter Jacob Lawrences Genesis Creation (1989) und Michael Armitages The Dumb Oracle (2019).
Künstler:innen: Michael Armitage, Gerard Bhengu, Wilson Bigaud, Edouard Duval Carrié, Aaron Douglas, Scherezade García, Jacob Lawrence, Cassi Namoda, Malangatana Ngwenya, Kambui Olujimi, Emma Pap’, Naudline Pierre, Prosper Pierre-Louis, María Magdalena Campos Pons, Cinga Samson, Gerard Sekoto, Devan Shimoyama, Alex Shyngle, Sthembiso Sibisi, Olivier Souffrant, Pamela Phatsimo Sunstrum, Nirit Takele
Gemälde wie Aaron Douglas’ Boy with a Toy Plane (1938), William H. Johnsons The Reader (1939), Joy Labinjos Gisting in the Kitchen (2018) oder Johnny Arts’ Werbeplakat für Ozor International Barber also Specialist in Hair Dying and Shampooing (1962) zeigen die Schönheit des alltäglichen Lebens. Das Kapitel präsentiert öffentliche und private Szenen mit Momenten der Freude oder der Kontemplation: in der Familie, in der Gemeinschaft, beim Spiel, in der Schule, beim Wassertragen oder Haareflechten.
Künstler:innen: Johnny Arts, Malang Badji, Romare Bearden, Aaron Douglas, Gervais Emmanuel Ducasse, Ben Enwonwu, Ablade Glover, Gavin Janties, William H. Johnson, Kangudia, Ibrahima Kébé, Joy Labinjo, Petson Lombe, Marvelous Mangena, Luis Meque, Moké, Meleko Mokgosi, Richard Mudariki, Theresa Mungure, Lavar Munroe, Chemu Ng’ok, Nicholous Njau, Boris Nzebo, Antoine Obin, Télémaque Obin, Bruce Onobrakpeya, George Pemba, Horace Pippin, Kingsley Sambo, Gerard Sekoto, Ancent Soi, Moustapha Souley, Edward Saidi Tingatinga, Zandile Tshabalala, Sane Wadu, Richard Witikani
Den Momenten des Feierns und der Freizeitvergnügen widmet sich das Kapitel Freude und Ausgelassenheit: Für ein Lied oder einen Tanz bleibt immer Zeit, so die Kuratorinnen. In Esiri Erheriene-Essis The Birthday Party (2021) wird für Steve Biko gesungen, in Philomé Obins Un mardi de Carnaval (1960) im Umzug mitgefeiert oder in Romare Beardens Jazz Rhapsody (1982) den Rhythmen gelauscht.
Künstler:innen: Romare Bearden, Esiri Erheriene-Essi, Barkley L. Hendricks, Clementine Hunter, Jacob Lawrence, Arjan Martins, Moké, Cinthia Sifa Mulanga, Eric Ndlovu, Nicholous Njau, Nestor Vuza Ntoko, Philomé Obin, George Pemba, Chéri Samba, Matundu Tanda, Katlego Tlabela, Charles White
Momente der Ruhe sind der Ausgelassenheit ebenbürtig. Der dritte Stock des Hauses Gegenwart lässt Platz dafür. Hier wird sich auf dem Sofa geräkelt wie in Sundials and Sonnets (2019) von Wangari Mathenge, übers Land spaziert wie in Toyin Ojih Odutolas Surveying the Family Seat (2017) oder einfach nur sitzend die Ruhe genossen wie in Kudzanai-Violecherit Hwamis An evening in Mazowe (2019) – entspannte Menschen überall, allein oder in trautem Gespräch.
Künstler:innen: Cornelius Annor, Gideon Appah, Firelei Báez, Amoako Boafo, Beauford Delaney, Kudzanai-Violet Hwami, Wangari Mathenge, Neo Matloga, Sungi Mlengeya, Ian Mwesiga, Thenjiwe Niki Nkosi, Toyin Ojih Odutola, Eniwaye Oluwaseyi, Marc Padeu, Zéh Palito, Otis Kwame Kye Quaicoe, Henry Taylor, Zandile Tshabalala, Kehinde Wiley, Lynette Yiadom-Boakye
Seit 2019 ist Koyo Kouoh Direktorin und Chefkuratorin des Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (Zeitz MOCAA) in Kapstadt. Kouoh wuchs in der Schweiz auf und zog in den 1990er-Jahren nach Dakar, Senegal, wo sie 2008 die Kunstinstitution RAW Material Company gründete, ein Zentrum für Kunst, Wissen und Gesellschaft. Sie war dort auch künstlerische Leiterin. Davor und parallel organisierte und kuratierte Kouoh bedeutende Ausstellungen und Biennalen weltweit (u.a. Ataraxia, den Salon Suisse an der Biennale von Venedig 2017). Dazu publizierte sie viel über die internationale Bedeutung der panafrikanischen Kunstgemeinschaft. 2020 erhielt Kouoh als eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der internationalen Kunstszene den Prix Meret Oppenheim, weil sie als Kuratorin und Kritikerin sowie als Gründerin von kulturellen Einrichtungen neue Wege der Vermittlung aufzeige und nachhaltig dazu beitrage, die Kunst aus dem afrikanischen Kontinent in einen globalen Kontext zu bringen.
Die in Simbabwe geborene Tandazani Dhlakama ist seit 2017 am Zeitz MOCAA als Kuratorin und in der Kunstvermittlung tätig. Davor arbeitete sie an National Gallery of Zimbabwe und war in verschieden Funktionen beteiligt an Ausstellungen, Konferenzen und Biennalen in Afrika. Dhlakama hat einen Master in Art Gallery and Museum Studies von der Universität Leeds, UK (2015), und einen Bachelor in Bildender Kunst und Politikwissenschaften von der St. Lawrence University, Canton, N.Y. (2011). Zuletzt kuratierte sie am El Espacio 23 in Miami Witness: Afro Perspectives from the Jorge M. Pérez Collection – eine Ausstellung zu systematischer Unterdrückung, generationenübergreifenden Traumata, neuen Weltbildern, Identität und Lebensraum.
Das Kunstmuseum dankt Kadiatou Diallo, Sindi-Leigh McBride und Lorena Rizzo vom Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel für ihren kritischen Blick auf die Adaption der Ausstellung im Kunstmuseum Basel.
Diese Ausstellung wird vom Zeitz MOCAA konzipiert und organisiert. Adaptiert für das Kunstmuseum Basel in Zusammenarbeit mit:
Anita Haldemann, Leiterin Kunst & Wissenschaft, Stv. der Direktorin
Daniel Kurjakovic, Kurator Programme
Maja Wismer, Leiterin Kunst ab 1960 und Gegenwartskunst
Beziehen Sie jetzt schon Ihr Ticket für den Museumsbesuch.
Kostenlos in die Ausstellung «When We See Us»:
Jeden ersten Donnerstag im Monat, 18–21 Uhr
Zu folgenden Zeiten besuchen Sie die Ausstellung «When We See Us» für 16 CHF anstatt 26 CHF:
Erster Sonntag im Monat
Der Katalog zur Ausstellung in Englisch inklusive Beilage mit Übersetzungen ins Deutsche und Französische und einem Vorwort zur Ausstellung im Kunstmuseum Basel.
Ein Raum für Veranstaltungen, Workshops, Gespräche und Performances im Rahmen der Ausstellung «When We See Us».
Eine frei zugängliche Sammlung ausgewählter Schallplatten, kuratiert von Musiker und Komponist Neo Muyanga und zusammengestellt von Plattfon Records zur Ausstellung When We See Us. Besucher:innen sind eingeladen, die Vinyl-sammlung auf dem im Studio Gegenwart vorhandenen Plattenspieler abzuspielen. Kopfhörer und Lautsprecher sind vorhanden und können individuell bedient werden. Während der gesamten Dauer der Ausstellung zugänglich (ausser während Veranstaltungen und Workshops).