Holbein und Dostojewski

Der Tote Christus und seine Wirkung

Der Tote Christus im Grab

Ausstellungsansicht Holbein und Dostojewski, Foto: Jonas Hänggi

Ausstellungsansicht Holbein und Dostojewski, Foto: Jonas Hänggi

Vor 500 Jahren wurde der Tote Christus im Grab von Hans Holbein d. J. (1497/98–1543) geschaffen, vermutlich im Auftrag von Bonifacius Amerbach. Woher wissen wir das? Von der gemalten Inschrift, einem Steingravur vortäuschenden trompe l’œil an der Seitenwand zu Füssen des künftigen Erlösers: «• M • D • XXI / • H • H •», also 1521, gefolgt von des Meisters Initialen.

Doch ausgerechnet das, was in Stein gemeisselt scheint, gibt Rätsel auf: Ausweislich der Infrarotreflektografie und der Röntgenaufnahme des Bildes lautete die Jahreszahl in römischen Ziffern ursprünglich 1522; Holbein übermalte die letzte römische Ziffer «I» mit dem gleichen Pigment, das er für die umgebende Fläche benutzte, also noch im Zuge der Fertigstellung des Werks. Aus einem uns unbekannten Grund wurde diese Rückdatierung nötig – vermutlich weniger ein Anliegen des Künstlers als vielmehr des Auftraggebers. Das Projekt muss also 1521 begonnen und im Folgejahr abgeschlossen worden sein.

Infrarotreflektografie.

Infrarotreflektografie.

Röntgenaufnahme.

Röntgenaufnahme.

Mehr noch: Die Rückdatierung ist anscheinend der letzte Schritt im Zuge einer grösseren Umarbeitung des fast fertigen Gemäldes, ebenfalls erkennbar in den strahlendiagnostischen Aufnahmen: Das Nischengrab umfing den Leichnam ursprünglich knapper und mit einem halben Tonnengewölbe, welches mit einem Viertelkreis an der Seitenwand anschlug. In diesem ersten Zustand hatte Holbein das Bild bereits datiert, und zwar zu Füssen des Leichnams: «D[halb verdeckt] XXI».

Erst mit der Erweiterung zur rechtwinklig kastenförmigen Nische tilgte der Maler diese erste Bezeichnung und brachte zuoberst nicht nur die komplette sechs- bzw. schliesslich fünfstellige Jahreszahl unter, sondern auch noch eine raumgreifendere Form seines Monogramms. Dieses vielleicht ungewöhnlichste aller sakralen Altmeistergemälde mutet nicht nur uns viel zu; schon zeitgenössische Betrachter muss es mit Zügen konfrontiert haben, die fast einzigartig sind: etwa das komplette Fehlen lebenden biblischen Personals (auch gegeben auf einer Zweitfassung in Privatbesitz von Mantegnas Beweinung Christi in der Mailänder Brera) und die streng bildparallele Ausgestrecktheit des Leichnams (auch gegeben auf italienischen Bildern mit der Salbung auf dem Stein). Vollkommen singulär ist indes die Darstellung des Grabes Christials Wandnische: Weder in der abendländischen noch in der ostkirchlichen Bildtradition scheint sie bis dahin vorzukommen.

Eine so radikale Abkehr von der Überlieferung konnte damals kein Künstler ohne das Plazet seines Auftraggebers verantworten: Amerbach und der mit ihm befreundete Erasmus von Rotterdam werden das genaue Aussehen der Grablege des Herrn diskutiert haben. Hierzu gab es allen Anlass; denn an der Authentizität der sog. Heilig-Grab-Ädikula in der Jerusalemer Grabeskirche zweifelten zeitgenössische Pilgerreisende bereits, und zwar völlig zu Recht. Erasmus war in Rom und Neapel gewesen und hätte dort antike und frühchristliche Katakomben mit Wandgräbern sehen können, die demjenigen auf Holbeins Gemälde entsprechen. Belegen lässt sich, dass das Thema Amerbach genau zur fraglichen Jahreswende beschäftigte: Aus der Bibliothek der Basler Kartause entlieh er am 16. Dezember 1521 den Klassiker unter den Beschreibungen des Heiligen Lands und seiner Denkmäler, die 1486 erschienene «Peregrinatio in terram sanctam» des Bernhard von Breydenbach.

Bernhard von Breydenbach, Peregrinatio in terrram sanctam, Mainz 1486, Basel, Universitätsbibliothek, UBH Inc 58, fol. 41v/42: Ansicht der Grabeskirche in Jerusalem (Holzschnitt), sowie Beschreibung derselben und des Heiligen Grabes. Aus dem Besitz der Kartause St. Margarethental in Kleinbasel © Universitätsbibliothek Basel

Bernhard von Breydenbach, Peregrinatio in terrram sanctam, Mainz 1486, Basel, Universitätsbibliothek, UBH Inc 58, fol. 41v/42: Ansicht der Grabeskirche in Jerusalem (Holzschnitt), sowie Beschreibung derselben und des Heiligen Grabes. Aus dem Besitz der Kartause St. Margarethental in Kleinbasel © Universitätsbibliothek Basel

Das Buch, das er in Händen hielt, als der Tote Christus auf Holbeins Staffelei stand, befindet sich heute in der Basler Universitätsbibliothek. Höchstwahrscheinlich geht das bis dato einzigartige Sujet des bildparallel in der Wandnische seiner Jerusalemer Grabeshöhle gelagerten Leichnams Christi also auf Anweisungen des Bonifacius Amerbach in Abstimmung mit Erasmus von Rotterdam zurück. Ob die damit einhergehende realistische Schilderung des Körpers eines Hingerichteten eher dem Anspruch des Auftraggebers oder dem des Malers geschuldet ist, wird sich nie bis ins Detail klären lassen. Schliesslich waren die drei Beteiligten nach allem, was wir wissen, Freunde, die zu unserem Leidwesen in diesem Fall nichts Schriftliches hinterliessen, da sie die Dinge mündlich regeln konnten.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Vor 200 Jahren wurde Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) in Moskau geboren, im selben Jahr wie Gustave Flaubert und Charles Baudelaire. Mit diesen zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Ein Besuch im Jahr 1867 verbindet ihn mit dem Kunstmuseum Basel und im Besonderen mit Holbeins Totem Christus. Seine zweite Frau Anna Grigorjewna Dostojewskaja berichtet in ihren Memoiren:

«Auf der Reise nach Genf machten wir für einen Tag in Basel halt, um im dortigen Museum ein Gemälde anzusehen, von dem mein Mann erzählen gehört hatte. Dieses Bild von Hans Holbein stellt Christus dar, der unmenschliche Qualen ertragen hat, bereits vom Kreuze heruntergenommen ist und der Verwesung anheimfällt. Sein aufgedunsenes Gesicht ist mit blutigen Wunden bedeckt und sein Aussehen ist schrecklich. Das Bild machte auf Fjodor Michailowitsch einen erschütternden Eindruck und er blieb davor wie erstarrt stehen. Meine Kräfte reichten nicht aus, um das Bild länger anzusehen: es fiel mir allzu schwer, zumal bei meinem kranken Zustande, einen solchen Anblick zu ertragen, und ich begab mich in die anderen Säle. Als ich nach fünfzehn bis zwanzig Minuten zurückkam, fand ich Fjodor Michailowitsch vor dem Bild wie versteinert auf demselben Platze stehen. Es war, als zeigte sein erregtes Gesicht Spuren jenes Entsetzens, das ich meist in den ersten Augenblicken eines epileptischen Anfalles bei ihm wahrnahm. Ich fasste meinen Mann ruhig bei der Hand, führte ihn in den andern Saal und setzte ihn auf die Bank, jeden Augenblick eines Anfalles gewärtig. Zum Glück blieb er aus: Fjodor Michailowitsch beruhigte sich allmählich und bestand beim Verlassen des Museums darauf, das Bild noch einmal zu sehen.»

Holbeinsaal im Museum Augustinergasse, Zustand vor 1907. Bestieg Dostojewski einen dieser Stühle bzw. einen der Vorgänger dieser Möbel? © Kunstmuseum Basel, Archiv

Holbeinsaal im Museum Augustinergasse, Zustand vor 1907. Bestieg Dostojewski einen dieser Stühle bzw. einen der Vorgänger dieser Möbel? © Kunstmuseum Basel, Archiv

Noch unter dem Eindruck skurriler Details der Visite hatte sie am 24. (bzw. 12. nach dem julianischen Kalender) August 1867 in ihrem Tagebuch notiert:

«Die Dame lud uns ein, hineinzugehen und zeigte uns die Gemälde Holbeins des Jüngeren. Im ganzen Museum sind nur zwei wertvolle Bilder und zwar der tote Heiland, ein wunderbares Werk, das mich geradezu in Schrecken versetzte und auf Fedja [Kurzform von Fjodor] einen solchen Eindruck machte, dass er Holbein für einen hervorragenden Künstler und Dichter erklärte. Gewöhnlich wird Jesus Christus nach dem Tode mit einem verzerrten und leidenden Gesichte dargestellt, während der Körper nicht im geringsten gemartert und gequält aussieht; dies muss er aber doch tatsächlich gewesen sein. Hier jedoch ist der Körper mager, die Rippen und Knochen sind sichtbar, Hände und Füsse von Wunden zerfetzt, aufgequollen und blau, wie bei einem schon in der Verwesung begriffenem Leichnam. Auch das Gesicht ist schrecklich gequält, die Augen sind halb geöffnet, jedoch ohne Ausdruck und schon ohne Sehvermögen. Nase, Mund und Kinn sind blau; das Ganze ist einem wirklichen Leichnam so unheimlich ähnlich, dass ich nicht gerne mit diesem Bilde allein in einem Zimmer wäre. Ich gebe zu, dass es naturgetreu ist, kann es jedoch keineswegs ästhetisch finden, und in mir erweckte es nur Abscheu und Entsetzen. Fedja jedoch war hingerissen davon und, in dem Wunsche, es näher zu sehen, stieg er auf einen Stuhl, so dass ich in heller Angst war, er werde Strafe zahlen müssen, denn hier muss man fortwährend Strafe zahlen. Das zweite sehenswerte Gemälde, das früher einer Privatgalerie angehörte, ist ‹Meeresblick› von Calame. Das ist ein herrliches Bild, wie ich ein schöneres noch nicht gesehen habe.»

Dostojewski bereitete damals seinen dritten grossen Roman Der Idiot vor, den er anschliessend in Genf, Vevey, Mailand und Florenz niederschrieb (erschienen als Feuilletonroman 1868/69). In diesem hat der Basler Museumsbesuch an fünf Stellen Spuren hinterlassen, und es werden drei Gemälde des Kunstmuseums evoziert: Hans Fries’ Enthauptung Johannes des Täufers, der Tote Christus von Hans Holbein d.J. in drei separaten Passagen, sowie die Dresdner Madonna, die damals noch als eigenhändiges Werk Holbeins galt. Letztere hatten die Dostojewskis zwar einige Monate zuvor in Dresden im Original studiert; doch könnte die damals seit kurzem im Basler Museum vorhandene Kopie von Julius Grüder ihnen diese Begegnung erneut ins Bewusstsein gerufen haben.

(Zitate: René Fülöp-Miller/Friedrich Eckstein [Hrsg.]: Die Lebenserinnerungen der Gattin Dostojewskis, übers. v. Dmitri Umanskij; Das Tagebuch der Gattin Dostojewskis, übers. v. Vera Mitrofanoff-Demelič, beide München 1925, S. 171f bzw. S. 506f).

Dostojewskis «Der Idiot»

An drei Stellen (Auszüge an der Wand) wird der Tote Christus von Hans Holbein d. J. in «Der Idiot» erwähnt: Zunächst ist er – genauer gesagt, eine massgleiche Kopie danach – Gegenstand eines kurzen Dialogs zwischen Fürst Myschkin und Rogoschin, den der Fürst zweitens auf dem Weg durch St. Petersburg bald darauf noch einmal Revue passieren lässt. Das Gemälde hängt inmitten anderer Bilder in Rogoschins Wohnung. Viele hundert Seiten später widmet der todkranke 18jährige Ippolit Terentjew der Kopie bei Rogoschin dann eine lange Paraphrase in seiner «Notwendigen Erklärung» (hier aufgeschlagen), einem intellektuellen Vermächtnis, das er in der Absicht verliest, anschliessend Selbstmord zu begehen.

Wenn Dostojewski hier Werke der bildenden Kunst erwähnt, so geht es ihm zu allerletzt um deren korrekte Beschreibung. Vielmehr setzt er sie ein, um in der Reflexion seiner Figuren über Sujet und Stil deren Haltungen und Standpunkte hervortreten zu lassen. Die erste und die letzte dem Toten Christus gewidmete Passage fallen daher höchst unterschiedlich aus: Die erste ist knapp, die letzte überaus weitschweifig formuliert. In der ersten authentifiziert der Fürst das Gemälde auf den ersten Blick als exzellente Kopie nach Holbein, in der letzten attestiert Ippolit demselben Werk ebenso rasch absolute künstlerische Belanglosigkeit. In der ersten wird das Bild einmal kurz und bündig als Darstellung des vom Kreuz genommenen Erlösers betitelt, in der letzten ist immer wieder lediglich vom Leichnam eines Menschen die Rede.

Der Dualismus zwischen dem zu verehrenden Opferleib des Herrn einerseits und der Schauder und Mitleid auslösenden, realistisch geschilderten Leiche andererseits führt zu der atheistischen Kernthese, welche die beiden Protagonisten wiederum ganz unterschiedlich interpretieren. Für den Fürsten besitzt das Gemälde in der Gegenwart der Erzählung das Potential, einen gläubigen Betrachter zum Abfall zu bewegen; der spontan aufblitzende Gedanke bestürzt ihn dabei zutiefst.

Aus dem Verismus, der unbedingten Wahrhaftigkeit des Abbilds heraus extrapoliert dagegen Ippolit, so schrecklich müsse der historische Leichnam Christi ausgesehen haben, und knüpft daran den Zweifel, ob die (wie er richtig bemerkt, im Bild abwesenden) Jünger und Frauen am Grabe überhaupt an eine Auferstehung des Herrn hätten glauben können. Der Anblick des Gemäldes hätte sogar Christus selbst davon abgehalten, seine Passion überhaupt anzutreten – was in letzter Konsequenz das Bild freilich seines Themas beraubt und damit seine Entstehung verhindert hätte.

Wie ein Hohlspiegel fokussiert Ippolits Rezeption der Malerei also das radikale und aporetische Denken des nihilistischen Jünglings. Fürst Myschkins Reaktion auf dieselbe Kunstübung entspringt hingegen der intuitiven Menschlichkeit, mit der Dostojewski seine Hauptfigur grundiert. Und die lapidare Replik des selbstquälerischen Rogoschin weckt eine düstere Vorahnung auf sein tragisches Schicksal als Mörder, den der Fürst dennoch mit altruistischer Empathie bis zum bitteren Ende begleiten wird.

Zitate aus «Der Idiot»

«Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein wunderschönes und sehr liebes Gesicht, aber vielleicht sind Sie insgeheim traurig. Sie haben ein sehr, sehr gutes Herz, zweifellos, aber Sie sind nicht fröhlich. Ihr Gesicht hat einen besonderen Zug, er erinnert an die Dresdner Madonna von Holbein.»

Hans Fries, Die Enthauptung Johannes des Täufers, 1514, Kunstmuseum Basel.

Hans Fries, Die Enthauptung Johannes des Täufers, 1514, Kunstmuseum Basel.

«Vorhin», antwortete ihr der Fürst,[…] «hatte ich in der Tat die Idee, Ihnen ein Sujet vorzuschlagen: Das Gesicht eines zum Tode Verurteilten, eine Minute, bevor das Eisen niedersaust, während er noch auf dem Schafott steht und den Kopf gleich auf dieses Brett legen wird.»
«Wieso das Gesicht? Nur das Gesicht?» fragte Adelaida. «Ein eigenartiges Sujet, wie soll das ein Bild geben?»
«Ich weiß nicht, warum nicht?» beharrte der Fürst voller Eifer, «ich habe vor kurzem in Basel ein solches Bild gesehen. Ich möchte Ihnen sehr gern davon erzählen ... Irgendwann werde ich Ihnen davon erzählen ... Es hat mich sehr getroffen.» (S. 93f)

Über der Tür zum nächsten Raum hing ein Bild, dessen Format sehr ungewöhnlich war, etwa zweieinhalb Arschin [ca. 180 cm] lang und nicht mehr als sechs Werschok [ca. 27 cm] hoch. Es zeigte den Erlöser unmittelbar nach der Kreuzabnahme.[…] «Das ist ... das ist eine Kopie nach Hans Holbein», sagte der Fürst, der sich inzwischen das Bild genauer angesehen hatte, «und zwar, scheint mir, eine ausgezeichnete Kopie, freilich, ich bin kein großer Kenner. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen.»[…] «[…]glaubst du an Gott oder nich‘», fuhr Rogoschin plötzlich fort, nachdem sie einige Schritte zurückgelegt hatten. «Wie seltsam du fragst und … blickst!» entfuhr es dem Fürsten. «Dieses Bild seh’ ich mir gern an», murmelte Rogoschin nach einigem Schweigen, als hätte er seine Frage wieder vergessen. «Dieses Bild!» rief der Fürst unter dem Eindruck eines überraschenden Gedankens plötzlich aus. «Dieses Bild! Vor diesem Bild kann manchem der Glaube verlorengehen!» «Tut er auch», bestätigte Rogoschin plötzlich und unvermittelt. (S. 315f)

Wie düster hatte Rogoschin heute gesagt, sein Glaube «geht verloren»! Dieser Mensch muß sehr leiden. Er sagt, daß er «dieses Bild gern ansieht»; aber das bedeutet nicht, daß er das Bild gerne hat, sondern daß er es braucht.[…] Er will mit Gewalt seinen verlorenen Glauben zurückerobern. Er ist jetzt auf den Glauben bis zur Verzweiflung angewiesen … Ja! Glauben, woran auch immer! An wen auch immer! Aber dieses seltsame Bild von Holbein … (S. 333f)

«In künstlerischer Hinsicht war an diesem Bild nichts Bemerkenswertes; aber es löste in mir eine seltsame Unruhe aus.[…] es ist die genaue Abbildung des Leichnams eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung unendliche Qualen ausgestanden hat, die Wunden, die Marter, die Schläge der Wachen, die Schläge des Volkes[…] wahrlich, so muß der Leichnam eines Menschen, wer er auch sei, aussehen, nach solchen Qualen.[…] Auf dem Bild ist dieses Gesicht durch die Schläge furchtbar entstellt, verquollen, mit unheimlich geschwollenen, nässenden Blutergüssen, die Augen offen, die Pupillen gebrochen; das deutlich sichtbare Weiß im Auge schimmert in leblosem, glasigem Glanz. Aber seltsam, beim Anblick dieses Leichnams eines gemarterten Menschen taucht eine ganz besondere und interessante Frage auf: Wenn einen solchen Leichnam (und genauso muß er ausgesehen haben) alle seine Jünger, seine wichtigsten späteren Apostel, gesehen haben, wenn ihn die Frauen, die ihm folgten und unter dem Kreuze standen, gesehen haben, alle, die an Ihn glaubten und Ihn liebten – wie konnten sie angesichts eines solchen Leichnams glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen wird?[…] In diesem Gemälde scheint in der Tat die Vorstellung von der finsteren scham- und sinnlosen unendlichen Kraft, der alles unterworfen ist, zum Ausdruck zu kommen und sich dem Betrachter unbemerkt mitzuteilen.

Diese Menschen, die den Toten umgaben, von denen kein einziger auf diesem Gemälde zu sehen ist, mußten an jenem Abend, der mit einem Schlag alle ihre Hoffnungen und beinahe ihren Glauben zerschmetterte, einen furchtbaren Schmerz und eine unbeschreibliche Verwirrung empfunden haben. Sie mußten in der grauenhaftesten Angst jeder seines Weges gehen, wenn auch jeder in seiner Seele eine gewaltige Idee mitnahm, die ihm nie mehr genommen werden konnte. Und wenn ihr Meister selbst am Tage vor der Kreuzigung sein eigenes Bild gesehen hätte, wäre er wohl auf das Kreuz gestiegen und so gestorben, wie es geschehen ist? Auch diese Frage erscheint wie von selbst, wenn man das Gemälde betrachtet.» (S. 591–593)

Zitate aus: Fjodor Dostojewskij: «Der Idiot». Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier, Zürich 1996