In den 60er Jahren formiert sich in Italien mit heute so berühmten Künstlern wie Alighiero Boetti, Jannis Kounellis, Mario Merz oder Michelangelo Pistoletto eine neue künstlerische Bewegung. Charakteristisch ist der Einsatz einfacher Mittel und ärmlicher Materialien wie Erde, Glas, Äste, Neonlicht oder Wachs. Er steht im durchaus kritischen Gegensatz zur immer technologischer werdenden Umwelt und zu den Produktionsmechanismen der Massenkultur. In stilistischer Anarchie streben Bilder, Objekte, Rauminstallationen und Performances danach, zu natürlichen Prozessen und Gesetzmässigkeiten zurückzufinden. Das Povere, Poröse bis Fliessende der Gestaltungsmittel soll die Wahrnehmung öffnen für „das allen Dingen zugrundeliegende Strömen von Energien“ (Carolyn Christov-Bakargiev). So entstehen prozessorientierte Arbeiten im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Anarchie und Ordnung. In diesen „visualisierten Wahrnehmungsprozessen“ wird gleichzeitig das grosse kulturelle Erbe – von Antike und Renaissance – auf sinnliche und poetische Weise befragt.
Der Begriff „Arte Povera“ taucht im September 1967 erstmals auf als Titel einer in Genua stattfindenden Ausstellung mit Künstlern aus Rom, Turin und Mailand, so Boetti, Fabro, Kounellis, Pascali, Paolini und Prini, nicht aber Pistoletto und Merz. Wortschöpfer ist der Kunstkritiker und Kurator der Genueser Ausstellung, Germano Celant. Diese künstlerische Bewegung jedoch als Künstlergruppe im engeren Sinne zu bezeichnen, kann aber schnell irreführend sein. Bei aller Vergleichbarkeit der künstlerischen Strategien und des gesellschaftspolitischen Engagements herrschte bei den einzelnen Künstlern eine Vielgestaltigkeit der formalen Mittel und eine ausgeprägte Individualität vor, die sich im Verlauf der 70er Jahre noch zuspitzte.
Die Sammlung Goetz ist eine der umfassendsten Sammlungen dieser überaus innovativen und wirksamen Kunstbewegung. Die grosse Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel ermöglicht es mit rund 100 Werken, die Aktualität der Arte Povera auch für die jüngste Künstlergeneration zu veranschaulichen. Zahlreiche Schlüsselwerke sind versammelt, die Ingvild Goetz über viele Jahre gesammelt hat und die seit langem nicht mehr öffentlich zu sehen waren. Ausserdem hat die Sammlung Goetz ein wichtiges Archiv mit Fotografien und Dokumenten angelegt. Sie werden in der Basler Ausstellung als Auftakt gezeigt, um die weitverzweigte Dimension dieses grossen künstlerischen Aufbruchs erfahrbar zu machen. So wird eine Übersichtsschau möglich, die in den späten 50er Jahren einsetzt und zu Beginn der frühen 90er Jahre endet, wobei das Schwergewicht auf der künstlerisch entscheidenden Frühphase der Arte Povera liegt.