15 Apr 2021
Anlässlich des Tages der Provenienzforschung stellt Tessa Rosebrock, Leiterin Provenienzforschung am Kunstmuseum Basel, die spannende Geschichte des Gemäldes «Strasse in Aasgaardstrand» von Edvard Munch vor.
Das Gemälde «Strasse in Aasgaardstrand» von Edvard Munch (1863–1944) zählt zu den berühmtesten Werken der Sammlung der Klassischen Moderne im Kunstmuseum Basel. 1979 ging es aus einer der schönsten Basler Privatsammlungen, nämlich jener des Konsuls und Unternehmers Fritz Schwarz-von Spreckelsen (1888–1949, Abb. 1), als Geschenk seiner Witwe Sigrid Schwarz-von Spreckelsen und ihrer Tochter Sigrid Katharina Schwarz in den Bestand ein. Seither wird es als ein Hauptwerk der Kunst um 1900, als Höhepunkt der Munch-Gruppe des Museums und als eines der Spitzenwerke der Basler Expressionisten präsentiert.
Die Schenkung erfolgte im Vorfeld der vom 25. März bis 29. April 1979 realisierten Ausstellung «Bilder und Zeichnungen aus der Sammlung Schwarz-von Spreckelsen», welche aufgrund des in Aussicht gestellten Vermächtnisses der gesamten Sammlung im Kunstmuseum Basel stattfand. Die präsentierte Auswahl umfasste sechs Bilder, acht Aquarelle, acht Zeichnungen und eine Skulptur von Künstlern wie Sandreuter, Schider, Weenix, Rodin, Giovanni Giacometti, Meyer-Amden, Gauguin, Munch und Hodler. Der Werkanzahl nach war es zwar keine grosse Veranstaltung. Dennoch blieb sie als eine der schönsten Ausstellungen in Erinnerung, wohl vor allem wegen des grossartigen Munch-Geschenks und der in Aussicht gestellten Übertragung.
Doch wie kam es dazu? Die Schenkung hat eine längere Vorgeschichte, die in ihrer Besonderheit nur durch einen Blick auf die Historie des hier vorgestellten Bildes und auf das Netzwerk der beteiligten Personen schlüssig wird.
Edvard Munch und seine Mäzene
Aus dem Atelier von Edvard Munch gelangte die «Landstrasse», wie sie damals noch bezeichnet wurde, in Besitz des mecklenburgischen «marchand-amateur» und Munch-Förderers Albert Kollmann (1837–1915). Von ihm erwarb sie 1913 Curt Glaser (1879–1943), ein jüdischer Arzt, Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Sammler unter Freunden «zu kleinem Preis». Glaser arbeitete von 1909 bis 1920 am Berliner Kupferstichkabinett und leitete die dortige Kunstbibliothek von 1924 bis 1933. Sowohl Kollmann als auch Glaser waren mit Munch persönlich bekannt. Kollmann stellte den Künstler dessen wichtigsten Mäzen, dem Augenarzt Dr. Max Linde aus Lübeck vor; Curt Glaser hat sich intensiv mit Munchs Werk beschäftigt und veröffentlichte dazu mehrere wissenschaftliche Aufsätze sowie eine Monographie.
Am 28. Oktober 1928 wurde das Gemälde von der ersten weiblichen Direktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (damals noch «Badische Kunsthalle»), Lilli Fischel (1893–1978), die das Haus nach dem frühen Tod ihres Vorgängers Willy Storck (1889–1927) interimistisch geleitet hat, für 12.000,- RM von Glaser gekauft. Die Erwerbung erfolgte im Rahmen einer Neuaufstellung der Sammlung, die insbesondere die Moderne berücksichtigen sollte, welche in Karlsruhe bis zu Storcks Amtsantritt 1920 nicht gesammelt worden war. Glaser und Lilli Fischel kannten sich als Grafikspezialisten wahrscheinlich berufsbedingt. Es ist allerdings auch ein privater Kontakt denkbar, denn ihre Studienorte (Freiburg, München, Berlin) überschneiden sich. 1910 konvertierte Glaser zum Protestantismus. Trotzdem wurde er 1933 aufgrund seines jüdischen Familienhintergrunds unmittelbar von den Nationalsozialisten entlassen – ein Schicksal, das er mit Lilli Fischel teilte.
Aus Unterlagen der Kunsthalle Karlsruhe geht hervor, dass die Verhandlungen um die «Strasse in Aasgaardstrand» im September 1928 eingesetzt haben. Damals war noch nicht klar, ob lieber die «Strasse» oder das «Doppelbildnis Albert Kollmann und Sten Drevsen» von 1901 (heute in der Hamburger Kunsthalle) von Glaser angekauft werden sollte. Doch Lilli Fischel erkannte schnell die überragende Qualität des ersten, und so wurde das Gemälde in Karlsruhe zum Hauptwerk der modernen Abteilung. Als Kommentar zum gelungenen Ankauf wurde am 28. Oktober 1928 in der nach wie vor existierenden Bildakte des Munch-Gemäldes vermerkt: «Da Munch bereits zu den Klassikern zählt und der grösste lebende Maler der ausserromanischen Länder ist, liegt ein derartiger Ankauf für die Badische Kunsthalle in der Linie des Notwendigen und finanzpolitisch Unaufschiebbaren.» In der Zeitschrift «Oberrheinische Kunst» lobte Kustos Arthur von Schneider (1886–1968) stolz die Schönheit der jüngsten Akquisition: «Aus dem Gebiet der neueren Malerei gelang der Ankauf der bekannten ‚Landstrasse‘ Edvard Munchs, eines Gemäldes, das 1902 [sic!] entstanden ist, also noch der frühen Epoche Munchscher Malerei mit seinem ausgesprochenen Mystizismus und seiner jugendstilartigen dekorativen Flächenwirkung angehört.» So viel zur ausnehmend positiven Haltung der Kunsthalle zu dem Gemälde zum Zeitpunkt seiner Erwerbung.
Doch mit dem aufkommenden Nationalsozialismus wurde vieles anders. Nachdem Lilli Fischel am 11. März 1933 im Zuge des allgemeinen Revirements beurlaubt und ihre Entlassung aufgrund ihrer jüdischen Abstammung mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums rückwirkend legalisiert worden war, wurde der deutsch-nationale Maler und Kulturpolitiker Hans Adolf Bühler (1877–1951, Abb. 2) durch die machthabenden Instanzen ins Amt gehoben.
Durch die von ihm organisierte Ausstellung «Regierungskunst 1918–1933» gelangte die Kunsthalle Karlsruhe zu der traurigen Berühmtheit, eine der ersten nationalsozialistischen Schandausstellungen in Deutschland realisiert zu haben, die schulemachend in die Geschichte einging. Sie zog Nachfolgeprojekte in Stuttgart, Hamburg, Dessau, Nürnberg, Chemnitz und an weiteren Orten nach sich, und gipfelte schliesslich 1937 in der Ausstellung «Entartete Kunst» in München. Neben der allgemeinen Diffamierung der Kunst der klassischen Moderne und der Avantgarde lag eine zusätzliche Stossrichtung der Karlsruher Ausstellung im Angriff auf die Leitung der Kunsthalle während der Weimarer Republik, und auf Storcks und Fischels auf Impressionismus, Expressionismus und Neue Sachlichkeit ausgerichtete Ankaufspolitik. Die «Strasse von Aasgaardstrand» wurde in dieser Schandausstellung gezeigt und unter dem Vorwurf der Verschwendung von Steuergeldern öffentlich als «Verfallskunst» angeprangert.
Noch im Dezember 1933 offerierte Bühler das Gemälde dem Kunstmuseum Basel. Hier stiess es zwar auf Zuspruch, doch die benötigten Gelder waren nicht frei. Im Protokoll der Kunstkommission vom 18. Dezember 1933 ist nachzulesen: «Munch: Die Strasse. Das von der Badischen Kunsthalle in Karlsruhe um MK 12.000,- erworbene Bild soll abgegeben werden. Nur ein Angebot wird gewünscht, eventuell auch Tausch gegen Romantiker. Der Präsident, Herr Staechelin und Prof. Speiser sind der Ansicht, wir hätten an drei Munch genug. Dr. Saxer ist im jetzigen Augenblick ebenfalls gegen eine Zersplitterung unserer Mittel. Herr Pellegrini meint, man solle versuchen, das Bild in Basler Besitz unterzubringen.»
Der Weg in die Öffentliche Kunstsammlung Basel
Fritz Schwarz-von Spreckelsen stand sowohl mit Wilhelm Barth (1869–1934), dem langjährigen Konservator der Basler Kunsthalle, der ihn für Munch zu begeistern verstand, als auch mit dem Maler Alfred Heinrich Pellegrini (1881–1958) sowie mit Otto Fischer (1886–1948), dem von 1927 bis 1939 amtierenden Direktor des Kunstmuseums Basel in enger persönlicher Beziehung. Der spätere Direktor des Kunstmuseums Franz Meyer (1919–2007) referiert in einem Rückblick auf die Ausstellung von 1979: «Für die Schwarzsche Sammlung ist von Bedeutung, dass, wie ausdrücklich vermerkt wird, 1935 der Ankauf des Munch-Bildes auf Fischers Rat zustande kam.» Am 14. Februar 1934 wurde die «Strasse in Aasgaardstrand» von Hans-Adolf Bühler für 4037,15 RM (ca. 5000 CHF) an den Kunstsammler Fritz Schwarz-von Spreckelsen aus Basel verkauft. Angesichts der damaligen Marktsituation und des viermal so hoch gelegenen Einkaufspreises kam der Handel einer Verschleuderung gleich. Hintergrund für die Abgabe waren angeblich ästhetische Vorgaben der NS-Partei, tatsächlich jedoch Bühlers persönliche Präferenzen, denen das Gemälde nicht entsprach, denn der Künstler Munch stand zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch offiziell in Gnade. Auch ein «Blumenstück» von Hans Purrmann (1880–1966) und ein weiteres Bild, das in der Ausstellung «Regierungskunst 1918–1933» angeprangert worden war, hat er 1934 veräussert, um mit dem Erlös eine «Felsenlandschaft mit Burgruine und Herden» von Johann Nepomuk Rauch (1804–1847) zu kaufen.
Der Abstoss dieser Werke rief trotz des herrschenden Zeitgeists massive öffentliche Kritik aus Wissenschaft und Politik hervor und kostete Bühler nur wenige Monate später sein Amt. Ab Juli 1934 wurde die Kunsthalle von dem aus der Schweiz stammenden Kunsthistoriker Kurt Martin (1899–1975) geführt. Die zwischenzeitliche Verfemung der Munch-Landschaft in den 1930er Jahren in Deutschland ist in Basel bis heute kaum bekannt, doch Sigrid Schwarz-von Spreckelsen scheint sich der Umstände bewusst gewesen zu sein. Zumindest liesse sich die grosszügige Schenkung des Werks an das Kunstmuseum Basel, durch dessen Hilfe es 1979 in ihre Privatsammlung gelangt war, so erklären.
Munchs «Strasse in Aasgaardstrand» ist derzeit im 2. OG des Kunstmuseums Basel zu sehen. Zum Werkeintrag in der Sammlung online geht es hier.
Bildnachweise:
Abb. 1: Fritz Schwarz-von Spreckelsen (1888–1949), entnommen aus https://www.portraitarchiv.ch/portrait/show/328361
Abb. 2: Hans Adolf Bühler (1877–1951), Ausschnitt aus einem Gruppenfoto der Jury der Deutschen Kunstausstellung 1923 in Karlsruhe, Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS oIV 456, entnommen aus https://stadtlexikon.karlsruhe.de/index.php/De:Lexikon:bio-0392