06 juil. 2020

Törichte Jungfrauen sind meist sakral konnotiert. Nicht jedoch bei der französischen Künstlerin Germaine Richier.

Was sucht eine «Vierge folle» im 20. Jahrhundert? Das klar sakral konnotierte Thema geht auf das Gleichnis der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen aus Matthäus 25, 1-13 zurück und findet sich häufig in der Bauskulptur der Gotik. Eine prominente Variante aus dem 12. Jahrhundert trifft man im Tympanon der Galluspforte des Basler Münsters an. Die mehrfigurige Szene mit einem endzeitlichen Kontext zeigt zehn weibliche und eine männliche Figur, Christus, in ihrer Mitte. Die klugen Jungfrauen erfüllen die Erwartungen, weil sie rechtzeitig ihre Öllämpchen gefüllt haben, während die törichten zwar Gefässe, aber kein Öl dabeihaben.

Dagegen ist die Bronzestatue der französischen Bildhauerin Germaine Richier von 1946 eine autonome Einzelfigur ohne religiöse Attribute. Es ist kein harmonisches Menschenbild, das in der schrundigen, deformierten Frauengestalt aufscheint. Nackt und mit erhobenem Haupt steht sie im Kontrapost auf einem Sockel. Die Hände sind schützend vor das Geschlecht gelegt, während Hände und Füsse zu Klauen mutieren. Der aus der Körperachse gerückte Kopf erzeugt einen leicht schwankenden Gang. Das ist Gesicht asymmetrisch, einseitig abgeflacht, gearbeitet. Auge, Mund und Nase sind nur angedeutet. Lädiert und fragil wirkt der Körper, der unzählige Spuren seines Entstehungsprozesses aufweist. Mit der aufgebrochenen Hautoberfläche kommt etwas Prozessuales und Provisorisches ins Spiel.

Wer war die Künstlerin, die damals Frauenbilder schuf, wie sie noch nie gezeigt worden waren? Geboren 1902 in der Provence, war Germaine Richier zusammen mit dem gleichaltrigen Alberto Giacometti von 1926 bis 1929 Schülerin bei Antoine Bourdelle (1861–1929) in Paris. Hier lernte sie ihren Mann, den Schweizer Bildhauer Otto Bänninger (1897–1973) kennen. Mit ihm verbrachte sie die Kriegszeit in der Schweiz, wo sie in ihrem Atelier und an der Gewerbeschule in Winterthur Unterricht erteilte und eine ganze Generation von Schweizer Bildhauer*innen prägte. Neben Robert Müller (1920–2003) und Peter Hächler (1922–1999) besuchte auch das bekannte Basler Künstlerpaar Lorenz (1916–2004) und Helen Balmer (*1924) den Unterricht in Zürich und Paris. Sie übernahmen Richiers Punktiermethode, die das Modell einer Art präzisen Vermessung unterwirft.

In den wenigen Jahren ihrer Schweizer Emigration stellte Richier mehrmals aus, einmal zusammen mit Marino Marini und Fritz Wotruba 1944 im Kunstmuseum Basel, dann 1945 in der Kunsthalle Bern und im Kunsthaus Zürich. 1946 liess sie sich von Otto Bänninger scheiden und kehrte zurück nach Paris. Die Entstehung der «Vierge folle» fällt genau in diese Jahre – eine Zeit des persönlichen und künstlerischen Umbruchs.

Die Bildhauerin arbeitete zwar nach wie vor nach Modell, entfernte sich aber immer mehr von einem naturalistischen Vorbild. In ihrem Atelier hortete sie Steine, knorrige Ästen und anderen bizarre Materialien, die auf die Genese ihrer Plastiken einwirkten. Es entstanden expressive Gestalten – Mischwesen zwischen Tier und Mensch. Richier orientierte sich an Spinnen, Ameisen, Gottesanbeterinnen und Kröten. International berühmt wurden ihre Insektenfrauen, La Mante (1946) und L’ Araignée (1946), hybride Wesen mit Brüsten.

Ihre Figuren sind in einem Moment der Metamorphose begriffen und lassen sich nur schwer einordnen. Zum speziellen Ausdruck mag auch das Klima der Nachkriegszeit und die damalige Existenzphilosophie beigetragen haben, andrerseits bezeichnete die Bildhauerin ihr Werk selber einmal als «im Wesentlichen surrealistisch». Richier zeigt uns in ihrer «Törichten Jungfrau» ein brüchiges, unvollkommenes Wesen. Sie entfernt sich sowohl vom sakralen Kontext als auch von einem idealtypischen Frauenbild. Vielmehr stellt sie menschliche Unvollkommenheit, Fragilität der Präsenz und den Moment der Verwandlung ins Zentrum. Der französische Titel «vierge folle» könnte doppeldeutig als «ver-rückt», im wahrsten Sinne des Wortes, als eine in Verwandlung begriffene Existenz gelesen werden.

Autorin: Iris Kretzschmar, Kunsthistorikerin, Kunstvermittlerin und freie Autorin