17 Apr 2020

Am 14. April ist der Schweizer Künstler Markus Raetz gestorben – er wurde 79 Jahre alt. Ein Nachruf von Anita Haldemann, die 2012 eine retrospektive Ausstellung seiner Zeichnungen im Kunstmuseum Basel ausrichtete.

Die erste institutionelle Einzelausstellung seiner Werke konnte der damals 30jährige Markus Raetz am 3. März 1972 im Kunstmuseum Basel eröffnen. Dieter Koepplin, langjähriger Leiter des Kupferstichkabinetts, stellte weit über 300 Zeichnungen, ein paar Druckgraphiken und dreidimensionale Objekte sowie Leinwandphotographien aus. Sie haben richtig gelesen: über 300 Zeichnungen! Und diese stammten nur aus den Jahren 1970 und 1971. Diese Flut an Gezeichnetem ist ein wichtiges Indiz für die Arbeitsweise des Berner Künstlers: «Nulla dies sine linea» – kein Tag verging ohne Linie, ohne Zeichnung. Der Satz, der in der Antike dem berühmten Maler Apelles zugeschrieben wurde und auch Paul Klee als Motto diente, traf auch auf Raetz zu. Auf Papier hat er kontinuierlich festgehalten, wie er die Welt wahrgenommen hat, oder besser: wie er seine eigene Wahrnehmung beobachtet hat. Das konstante Nachdenken über das Sehen und dessen Veränderung hat er mit sparsamen und fliessenden Linien und öfters auch mit ebenso sparsamen, aber ebenso pointierten Worten aufgezeichnet.

Insgesamt hat er in seinem Leben nahezu 30‘000 Zeichnungen geschaffen. Es sind Skizzen und Studien, Notizen und auch Konstruktionszeichnungen für seine Objekte und Mobiles. Aquarelle und grössere Formate gehören ebenso dazu. Mit Genauigkeit hat er seine Werke datiert und signiert – dies eine Empfehlung, die ihm Meret Oppenheim mit auf den Weg gegeben hatte.

1989 kuratierte Dieter Koepplin im neuen Museum für Gegenwartskunst (heute Kunstmuseum Basel, Gegenwart) eine weitere Ausstellung mit dem Titel Markus Raetz. Installation, Zeichnungen. Das Herzstück der Schau bestand aus einer Installation, ähnlich wie sie ein Jahr zuvor im Schweizer Pavillon an der Biennale in Venedig eingerichtet worden war. Neben Zeichnungen, die Aus- und Durchblicke zeigten waren auch Landschaften und Wolkenbilder zu sehen.

20 Jahre später, im Winter 2009/2010, begannen die Gespräche mit Markus Raetz über eine Zeichnungsretrospektive im Kunstmuseum Basel, die ich als Kuratorin des Kupferstichkabinetts organisieren durfte. Die Ausstellung sollte zwar vom Bestand an Zeichnungen im Kupferstichkabinett ausgehen, wo sich ein hervorragendes Konvolut von etwa 60 Zeichnungen befindet, sie sollten aber ergänzt werden durch die wichtigsten Werke aus dem Besitz des Künstlers und weiteren Leihgaben. So wurde ich von Markus Raetz eingeladen, mir vor Ort einen Überblick über sein zeichnerisches Werk zu verschaffen, das zu diesem Zeitpunkt nur fragmentarisch digitalisiert war. Das bedeutete, Schachtel um Schachtel, Schublade um Schublade zu öffnen, diese Blätter in die Hand nehmen zu dürfen und eine regelrechte Zeitreise durch das Schaffen des Künstlers zu machen. Markus Raetz stand immer wieder zur Seite und erklärte, wann und warum ein Blatt entstanden ist und so war es auch für ihn ein bisschen eine Reise auf den eigenen graphischen Spuren. Es zeigte sich, dass gewisse Motive wie das Möbiusband, das er für eine Edition verwendete, die später im Rahmen der Ausstellung erscheinen sollte, schon Jahrzehnte zuvor erstmals in einem Skizzenbuch gezeichnet hatte.

Man kann sich also vorstellen, dass das Sichten der Werke einige Zeit in Anspruch nahm – 30‘000 Blätter! Dank der grosszügigen und herzlichen Gastfreundschaft von Markus Raetz und seiner Frau Monika, die ein wunderbares Team bildeten, war ich mehrmals mehrere Tage in Bern und wurde nicht nur mit Kunst, sondern auch am Mittagstisch verwöhnt. Bei den Gesprächen über das Zeichnen und die Wahrnehmung griff er manchmal zum Bleistift um etwas zu erklären. Als hätte ich eine kleine Sehschule absolviert, fiel mir auf, dass ich im Anschluss an die Besuche beim Künstler auf dem Weg durch die Stadt ganz andere Dinge wahrnahm, etwa Details und Perspektiven, die ich normalerweise in der Eile übersehen hätte.

Die lange und sehr bereichernde Zusammenarbeit mit Markus Raetz resultierte schliesslich in der Ausstellung, die im Oktober 2012 im Kunstmuseum Basel eröffnet wurde. Wir zeigten Zeichnungen aus über 50 Jahren unermüdlichen Schaffens, die punktuell ergänzt wurden durch dreidimensionale Objekte. Für mich waren besonders die Skizzenbücher ein Höhepunkt der Ausstellung. Mit viel Bedacht wählte der Künstler die aufgeschlagenen Seiten und auf einem Bildschirm konnte man virtuell in einem der Bücher blättern. Gerade die jüngeren Besucherinnen und Besucher waren beeindruckt, wie Raetz schon seit den Anfängen im bewegten Bern der späten 1960er-Jahren Teil der neusten Entwicklungen im Bereich Zeichnung gewesen war. Von Schreibmaschinen-Bildern über Fingermalerei und Monotypien experimentierte er mit vielen möglichen graphischen Prozessen. Ebenso gehörten Trickfilme, Polaroid-Fotos und die Zeichnungen, die er mit Hilfe von Ästen oder Drähten im Raum konstruierte, zu seinem Repertoire. Seine Studien trugen damit viel dazu bei, die Zeichnung als Medium zu erweitern und emanzipieren.

Die Ausstellung im Kunstmuseum wurde sehr gut besucht, viele Besucher:innen kamen mehrmals in die Ausstellung und verbrachten viel Zeit mit den Werken von Markus Raetz. Raetz verstand es, komplexen Reflektionen über unsere Wahrnehmung spielerisch und meist mit Humor Ausdruck zu verleihen. Was vielleicht unüblich ist für eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst, ist daher die Tatsache, dass die meisten Besucher mit einem Lächeln aus der Ausstellung kamen.

Anita Haldemann, Leiterin Kunst und Wissenschaft und Leiterin Kupferstichkabinett.