09 Feb. 2021

Die Führungsreihe «Inspired by her» zu aktuellen weiblichen Positionen im Kunstmuseum Basel bringt uns mit diesem Beitrag Hannah Villigers Fotografie-Reihe «Skulptural» näher.

Füsse, Waden und Oberschenkel fügen sich in abgewinkelten Diagonalen zu einem räumlichen Gebilde. Fast zärtlich schmiegen sich die Körperteile aneinander, lassen Zwischenräume sprechen, die den Blick auf einen ockerfarbigen und weissen Grund freigeben. Weibliches zeigt sich hier aus grösster Nähe in seiner ganzen Verletzlichkeit. Rechts wird ein Busch dunklen Schamhaars im Dreieck von geöffneten Schenkeln sichtbar. Sehnen, Adern und Körpermale sind Teil der rötlichen Hautstruktur, die sich in weisslichen Partien verliert. Schnörkellos und direkt sind diese Aufnahmen, nichts wird beschönigt. Alle körperlichen Makel werden zum bildgebenden Bestandteil. Hanna Villiger geht es weder um Idealisierung noch um Sexualisierung des weiblichen Körpers.

Obwohl diese Arbeit vor rund 30 Jahren entstand, hat sie bis heute nichts an Aktualität eingebüsst. Die radikalen Körperbilder von Villiger, die mit 46 Jahren früh verstorben ist, gehören längst zu den Klassikern der Kunst. Sie stehen in einer Strömung von Bildfindungen, die seit den 70er-Jahren die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ins Zentrum stellen. Der männliche Blick, der lange die Tradition der Aktdarstellung dominierte, wird abgelöst.

«Skulptural» betitelt Hannah Villiger seit 1983 fast alle ihre Arbeiten. Ausgebildet als Bildhauerin wechselt die Künstlerin zum Lichtbild – ihre Werke werden Skulpturen im Medium der Fotografie. Anfang 80er-Jahre beginnt sie damit, sich in ihrer Nacktheit mit einer Polaroidkamera abzutasten. Frühe Selfies? Nein, der Zweck liegt hier nicht in einer eitlen Selbstdarstellung, vielmehr in der forschenden Selbstbefragung: Der Körper wird zum künstlerischen Arbeitsmaterial. Villiger ist Motiv und Subjekt zugleich, die Armlänge bestimmt die Distanz zur Aufnahme. Ausschnitt und Komposition sind nur teilweise steuerbar, so werden Kontrollverlust und Zufall zu Mitspielern im Bildentstehungsprozess. Je näher die Kamera herangeht umso verzerrter, fremder wirken die Körperpartien.

Im Anschluss werden die Polaroids um ein Vielfaches vergrössert und auf Aluminium aufgezogen. Durch das «Blow up» entstehen Bilder mit monumentalen Körperskulpturen – die Wirkung, faszinierend und fremd zugleich. «Die Fotos müssen gross sein, damit ich hineinsteigen kann. Ähnlich wie beim Aufnehmen durchs Objektiv», betont die Künstlerin den räumlichen Aspekt ihrer Arbeiten. Noch einen Schritt weiter geht sie, indem sie die einzelnen Aufnahmen zu mehrteiligen Blöcken zusammenstellt. In den grossen Wandbildern flackern helle Partien wie Irrlichter rhythmisch vor dunklem Grund, sie verknoten und formen sich zu organischen Gebilden. Teilweise stark überbelichtet erreichen die Bildsequenzen einen hohen Abstraktionsgrad, wirken malerisch und skulptural zugleich. Mit ihren Bildern hat die Künstlerin eine völlig neue Form von Selbstdarstellung erschaffen, die ein von gesellschaftlicher Vereinnahmung befreites Körperbild hervorbringt. Gerade in der heutigen multimedial geprägten Welt sind Villigers Werke wichtig. Mit dem Bekenntnis zum gefährdeten Körper setzen sie, im Angesicht von Angst und Bedrohung, ein starkes Zeichen für Menschlichkeit.

Autorin: Iris Kretzschmar, Kunsthistorikerin, Kunstvermittlerin und freie Autorin