28 Jan. 2021

Die Idee der Zentralperspektive etablierte sich in der Renaissance und setzte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als allgemein gültiges Konzept für die Malerei durch. Der Bildrahmen wird dabei zum Fensterrahmen, der den Blick auf das Motiv freigibt. Dieses zeigt auf der Leinwand möglichst realistisch die Illusion einer gesehenen Wirklichkeit. Der Kubismus stellt dieses Konzept in Frage und bricht als erste Stilrichtung radikal mit seinen Regeln.

Das Kunstmuseum Basel beheimatet eine grossartige Sammlung kubistischer Kunst. Grösstenteils geht sie auf die umfangreiche Schenkung des Basler Sammlers Raoul La Roche im Jahre 1952 zurück. Broc et violon von Georges Braque gehört dazu. Die Schnecke der Geige mit den Stimmwirbeln ist im Zentrum des Bildes deutlich zu erkennen. Doch die daran anschliessenden Saiten verlaufen zerschnitten und geknickt. Der Körper des Instrumentes lässt sich nicht präzise rekonstruieren, er löst sich in geometrischen Facetten auf. Nur die Schalllöcher helfen, den Gegenstand zu verorten. Vom Krug links über der Geige lassen sich ein Schnabel und eine obere Kante sowie die Umrisse eines Bauches erahnen, doch auch er ist nicht zuverlässig bestimmbar. Diese vermeintlichen Gegenstände sind eingespannt in ein Gefüge aus geometrischen Formen, die sich jeweils genauso wenig klar begrenzen lassen wie die Motive selbst. Diese Formsplitter entwickeln sich mit Konturlinien und Schattierungen in hell und dunkel aus dem Bildgrund heraus und vermitteln dadurch stellenweise den Eindruck einer Dreidimensionalität. Sie bleiben gleichzeitig jedoch auch fest mit dem Bildgrund als Fläche verbunden, da sich diese Formen nicht schlüssig zu Ende denken lassen. Die Wahrnehmung des Betrachters wird stetig herausgefordert im Wechsel zwischen zweidimensionaler und räumlicher Wirkung. Gewisse Stellen betonen die Bildfläche, andere lassen eine räumliche Tiefe vermuten, Gegenstände lassen sich einerseits erkennen und verlieren sich gleichzeitig in der Zerstückelung. Es eröffnen sich verschiedene mögliche Ansichten von Raum und Gegenstand gleichzeitig. Die Zentralperspektive wird aufgegeben zugunsten einer multiplen Perspektive.

Nur der Nagel in der Mitte der oberen Bildkante erfüllt die räumliche Illusion perfekt und ist nicht Teil dieses Stilllebens aus zersplitterten Formen. Während der Bildgrund hier ganz anders als beim zentralperspektivisch konzipierte Bild den Blick in eine illusorische Raumtiefe verschliesst, öffnet dieser Nagel dafür eine Raumillusion in die andere Richtung. Er scheint in den Raum des Betrachters vor dem Bild zu ragen. Als Trompe l’oeil höchst realistisch dargestellt, erweckt dieser Nagel den Eindruck, dass er das Gemälde an der Wand fixiert.

Massgebend geprägt wurde der Kubismus von Pablo Picasso und Georges Braque, die sich zeitweise so eng austauschten, dass deren Werke sich kaum voneinander unterscheiden lassen. Wie viele andere Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchten sie nach neuen Bildsprachen für die Kunst. Heute wird der Kubismus zelebriert als die wohl revolutionärste Neuerung in der Kunst des 20. Jahrhunderts, und das Auge des Betrachters hat inzwischen die Sehgewohnheiten im Umgang mit noch abstrakterer Kunst entwickelt. Doch die Andersartigkeit des Kubismus stiess bei den Zeitgenossen zunächst nicht nur auf Begeisterung, sondern löste auch einiges an Skepsis und Unverständnis aus.

Als Georges Braque 1908 seine ersten kubistischen Werke im Salon d’Automne einreichen wollte, wurden diese von der Jury abgelehnt. Der Salon war eine jährliche Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die für den ganzen Kunstbetrieb von grosser Bedeutung war. Künstler, Kunstkritiker und Kunsthändler schauten sich die Ausstellungen an und tauschten sich über die Ideen der aktuellen Kunstentwicklung aus. Braque zeigte seine Werke nach der Abfuhr des Herbstsalons im November in der Galerie von Daniel-Henry Kahnweiler, der von der Kubistischen Idee begeistert war. Doch der Einflussreiche Kritiker Louis Vauxcelles schrieb über diese Ausstellung: «Braque pfeift auf die Form. Er vereinfacht alles, Landschaft und Häuser, zu geometrischen Schemaformen, zu Kuben». Aus dieser Kritik resultierte schlussendlich die Bezeichnung des Stils als «Kubismus». Auch Picasso stiess anfangs nicht nur auf Begeisterung mit dieser neuen Bildsprache. Mit dem Kunsthändler Ambroise Vollard pflegte er über vier Jahrzehnte lang eine gute Geschäftsbeziehung, die während den kubistischen Jahren jedoch etwas abkühlte.

Es waren vor allem die Kunsthändler Kahnweiler und Uhde, die den Kubismus vermarkteten. Sie hatten gute Kontakte zu deutschen Sammlern, und so war diese neue Kunst in Deutschland bereits angesagt, als sie in Paris noch nicht wirklich etabliert war. In Paris wurden kubistische Werke erst nach dem Ersten Weltkrieg ab 1918 im grösseren Stil öffentlich gezeigt. Das war zu einem Zeitpunkt, als sich Picasso in seinem künstlerischen Schaffen bereits wieder davon loslöste und zu einer neoklassizistischen Bildsprache fand.

Autorin: Seraina Werthemann, Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin