01 Juni 2020

Die Rolle der Frau im Werk des Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli wird kontrovers diskutiert. Eines der Gemälde, das Anlass dazu gibt, befindet sich in der Sammlung des Kunstmuseums Basel.

In Johann Heinrich Füsslis Gemälden und insbesondere in seinen privaten Zeichnungen begegnen uns sehr unterschiedliche Frauentypen. Von geziemten Damen und verzweifelten Seelen über Herrscherinnen hin zu Verführerinnen und Kurtisanen ist alles dabei. Die Rolle der Frau in Füsslis Werk wurde deshalb von der Forschung kontrovers diskutiert. Im Kunstmuseum Basel befindet sich ein Gemälde, das zwei verschiedene Frauentypen abzubilden scheint und verschiedene Überlegungen zur Interpretation der Szene möglich macht: Ruhender Frauenakt und Klavierspielerin.

Vorlage für diese Komposition war Tizians Venus mit dem Orgelspieler, von der Füssli jedoch stark abweicht. Insbesondere verändert er die Blickführung der beiden Figuren, und aus dem männlichen Orgelspieler wird eine junge Frau, die auf einem modernen Hammerklavier spielt. Sie blickt ganz in ihre Musik versunken auf ein Notenblatt und nicht zu der Liegenden. Jene dafür hat sich der Musizierenden zugewandt und scheint mit der rechten Hand den Rhythmus der Melodie auf dem Polster mitzuklopfen.

Die beiden Frauen wirken vorerst sehr gegensätzlich. Die aufrecht sitzende, konzentrierte Klavierspielerin mit elegantem Kleid und kunstvoll aufgetürmter Frisur kontrastiert mit der entblösst Liegenden, deren offenen wallenden Haaren und entspannten Haltung. Sie scheinen zwei verschiedene Typen zu verkörpern: Geistigkeit versus Körperlichkeit, Kultiviertheit versus Natürlichkeit. Dieses gegensätzliche Figurenpaar liesse sich mit der These der Triebsublimierung schlüssig erklären. Sie beschreibt die Bestrebung, die Triebenergie in künstlerisch-schöpferische oder intellektuelle Handlungen und Interessen umzuwandeln, um so den Fokus zu verändern. Der instinkthafte körperliche Trieb erfährt dadurch eine Veredelung, er wird in eine geistige, höher gewertete Dimension erhoben – in diesem Falle dargestellt durch das konzentrierte Musizieren. Demgegenüber lässt die liegende Nackte mit ihrer ungezwungenen Haltung und dem spielerischen Fingertippen ihrer erotischen Sinnlichkeit freien Lauf. In dem ungleichen Paar könnte man also zwei Möglichkeiten im Umgang mit der Triebhaftigkeit erkennen: den Ungezwungenen und den Sublimierenden.

Genauso wie die beiden Frauen sich voneinander unterscheiden, verbindet sie aber auch etwas für die Bildwirkung ganz Entscheidendes: beide spielen sie mit den Sinnen – die eine mit dem Hörsinn, die andere mit dem Sehsinn. Wird berücksichtigt, dass das Spiel auf einem Musikinstrument traditionellerweise auch mit Liebe und Erotik assoziiert werden kann, trägt die Klavierspielerin ebenfalls zu der sinnlichen Atmosphäre der Szene bei. So gesehen ist sie nicht ein Vorbild für die Triebsublimierung, sondern das Thema der Verführung wohnt ihr genauso inne wie dem liegenden Akt. Demnach unterstützen und potenzieren sich die beiden Frauen gegenseitig in ihrer einerseits sichtbaren, andererseits hörbaren Sinnlichkeit und stehen trotz ihrer Verschiedenheit in einem atmosphärischen Einklang.

Je nach Blickwinkel kann das Gesehene verschieden verstanden werden. Der stetige Diskurs und das Wiedererwägen halten die Kunst lebendig.

Autorin: Seraina Werthemann, Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin