04 Mai 2020

Von der Schweizer Malerin Ottilie Roederstein findet sich in unserer Sammlung ein seltenes frühes Selbstporträt. Es passt perfekt in unsere Führungsreihe «Inspired by her» zu aktuellen weiblichen Positionen im Kunstmuseum Basel.

Die junge Frau blickt uns kühn, mit leicht nach links gedrehtem Kopf und klaren Augen entgegen. Sie scheint sich ihrer Wirkung bewusst. Hell hebt sich das Inkarnat vom dunklen Stehkragen des altertümlichen Gewandes ab, während sich die dunkelblonden Locken ungezähmt über Ohr, Schläfe und Nacken kräuseln. Das Licht fällt von rechts ein, erhellt die linke Gesichtshälfte und lässt die rechte im Schatten zurücktreten. Alle Bildelemente der Dreiviertelansicht sind mit feinem Pinsel plastisch herausgearbeitet. Gemalt ist das Bild auf Holz in altmeisterlicher Manier, es erinnert im Habitus gar an Künstlerbildnisse der Renaissance.

Kein Schmuck ziert die junge Frau, dafür fängt ihr leuchtend rotes Beret den Blick, ein eher ungewöhnlicher Kopfschmuck für Frauen zu dieser Zeit. Die ursprünglich männliche Kopfbedeckung, auch Franzosenmütze genannt, von Künstlern wie Rodin, Picasso und Gauguin getragen, gelangte erst später zu femininen Ehren, man denke dabei an Marlene Dietrich. In der weiblichen Hutmode wurden damals Blumen, Federn und Rüschen bevorzugt, wie zeitgleiche Bildnisse nahelegen. In Roedersteins Selbstbildnis ist das rote Beret nicht nur Blickfang, sondern auch Programm. Es gibt der Trägerin einen vornehmen, aber auch verwegenen Ausdruck. Der Bezug zu Frankreich ist durch eine Beischrift in französischer Sprache am oberen Bildrand gegeben: «O.W. Roederstein peinte par elle même 1894». Autorschaft und Motiv sind so klar ausgewiesen. Die Künstlerin hatte nicht nur in Paris studiert, sie stellte das Selbstbildnis auch im gleichen Jahr im Salon der Société Nationale des Beaux-Arts auf den Champs de Mars in Paris aus.

Wer mag sie wohl gewesen sein diese eigenwillige Person? Mit dem Bildnis verbindet sich eine bewegte Lebensgeschichte. Aufgrund gesellschaftlicher Konventionen war den Frauen, vor der Jahrhundertwende, das Kunststudium an einer Akademie versagt. Roederstein setzte ihren Wunsch, Malerin zu werden, gegen den Widerstand von Gesellschaft und Eltern durch und nahm 1876 Unterricht bei Eduard Pfyffer (1836–1899) in Zürich. 1879 trat sie in Berlin ins Atelier von Karl Gussow (1843–1907) ein, um ihre künstlerische Ausbildung 1882 bis 1887 in Paris bei Carolus Duran, Jean-Jacques Henner und im Atelier von Luc Olivier Merson weiter zu verfolgen.

Neben der Malerei von Stillleben und Landschaften machte sie sich einen Namen als Porträtistin und konnte schon in den 1880er Jahren von ihrer Malerei leben. In dieser Zeit lernte sie ihre künftige Lebenspartnerin kennen: Die Ärztin Elisabeth Winterhalter (1856–1952), die damals in Zürich Medizin studierte und als erste Chirurgin Deutschlands in die Geschichte eingegangen ist. Die beiden Frauen lebten offen eine gleichgeschlechtliche Beziehung – ein Tabu zu jener Zeit. Sie engagierten sich für die Bildung und das Studium ihrer Geschlechtsgenossinnen. Roederstein gründete eine Stiftung für mittellose Malerinnen, Winterhalter eine Poliklinik. Zur Zeit der Entstehung des Selbstporträts lebten die beiden gerade in Frankfurt am Main. Eine Fotografie zeigt Roederstein mit besagter Kopfbedeckung im Atelier der Staedelschen Kunstschule.

Selbstdarstellungen spielten zeitlebens eine wichtige Rolle in ihrem Werk. Von 84 bekannten Gemälden, Zeichnungen und Radierungen sind noch 23 im Original erhalten. Das vorliegende Bild gehört zu den wenigen auffindbaren frühen Selbstporträts. Es muss für sie wichtig gewesen sein, denn es diente auch als Vorlage für eine spätere Radierung. Selbstbewusst stellt sie sich in eine von Männern dominierte Tradition der Kunst und betont ihren malerischen Standpunkt. Zu Lebzeiten international beachtet, ist ihr Name heute, wie der vieler anderer Künstlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts auch, in Vergessenheit geraten. Eine Gelegenheit, sie neu zu entdecken, bietet sich Ende Jahr in einer monographischen Sonderausstellung im Kunsthaus Zürich.

Autorin: Iris Kretzschmar, Kunsthistorikerin, Kunstvermittlerin und freie Autorin