02 Mai 2020

Künstler formulieren mit ihren Werken häufig Kritik an sozialen und politischen Verhältnissen und lösen dadurch Kontroversen aus. Je nach Zeit oder Regime ist die Konsequenz, die sie tragen müssen, die Zensur.

So erging es auch dem Basler Künstler Paul Camenisch. Alljährlich richtete der Basler Kunstverein eine grosse Weihnachtsausstellung aus, in der die neuesten Werke lokaler Künstler dem Publikum vorgestellt wurden. Camenisch war ein etablierter Künstler und hatte mit seiner Gruppe «Rot-Blau» bereits diverse Arbeiten im Kunstverein gezeigt. Doch als er für die Weihnachtsausstellung des Jahres 1944 das Werk mit dem Titel Schweizer Narziss einreichen wollte, wurde dieses von der Jury abgelehnt und nicht ausgestellt.

Das Gemälde zeigt einen männlichen Akt in zweifacher Wiedergabe. Wir sehen dieselbe Figur einmal vor einem Spiegel stehend und einmal in der Reflexion des Spiegels. Der freizügige männliche Akt mag einer der Gründe für die Ablehnung gewesen sein, doch einiges gewichtiger für diesen Entscheid waren wohl der Bildhintergrund, der auf den ersten Blick gar nicht so sehr ins Auge sticht, und die politische Kritik, die jener Hintergrund in Verbindung mit dem Werktitel impliziert. Die nackte Figur, die sich in lässiger Haltung selbst im Spiegel betrachtet, steht in einem Badezimmer mit Kacheln an der Wand, die sich bei genauer Betrachtung als Sammelsurium von Szenen verschiedenster Kriegsgräuel entpuppen – eines schrecklicher als das andere. Zu erkennen sind Erschiessungskommandos, Verstümmelung, Vergewaltigung, Zwangsarbeit, aber auch Flucht und Vertreibung, Bücherverbrennung und Verbot der Meinungsfreiheit.

Camenisch prangert in diesen Kacheln schonungslos die sinnlose Gewalt der Menschen an. Dies ist aber nur der eine Teil des Bildgehaltes. Denn zentrales Motiv ist nach wie vor der männliche Akt. Und mit Hilfe des Werktitels können wir diesen auch identifizieren. Wir kennen Narziss aus der griechischen Mythologie, er verliebte sich dermassen in sein eigenes Spiegelbild, dass er darin den Tod fand. Überträgt man diese Geschichte auf unser Bild, so lässt sich die scharfe Kritik leicht ablesen, die diesem Werk innewohnt und die wohl die Jury des Kunstvereins bewegte, es nicht auszustellen: Der Schweizer Narziss betrachtet sich selbstverliebt im Spiegel, er kann den Blick kaum von seiner selbst abwenden, und kehrt all dem Geschehen den Rücken zu, das direkt hinter ihm von statten geht. Wir befinden uns im Jahre 1944, gleich hinter Basels Grenze ist der 2. Weltkrieg im vollen Gange.

Paul Camenisch war politisch sehr aktiv. Er war überzeugter Kommunist und 1944 Mitbegründer der PdA (Partei der Arbeit), die er fortan viele Jahre im Grossen Rat der Stadt Basel vertrat. Er muss ein leidenschaftlicher Verfechter seiner Überzeugungen gewesen sein – ideologisch, wortstark und beharrlich. Sein politischer Enthusiasmus führte schliesslich sogar dazu, dass er 1953 von der Basler Künstlervereinigung «Gruppe 33» ausgeschlossen wurde, obwohl er Gründungsmitglied und langjähriger Präsident war. Fortan arbeitete er künstlerisch sowie auch gesellschaftlich sehr isoliert.

Autorin: Seraina Werthemann, Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin