25 Apr. 2020

In drei Beiträgen zum Tag der Provenienzforschung am 8. April haben die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der Provenienzabteilung des Kunstmuseums in diesem Blog bereits von ihrer Arbeit und zwei Fallbeispielen berichtet. Die folgende Werkbiografie zu einer Skulptur von Jacques Lipchitz (1891-1973) vermittelt einen Eindruck, welche Dramen sich hinter Kunstwerken verbergen können und in welche moralisch fragwürdigen Positionen sich die Kunstpolitik begeben kann, auch jenseits der Zeit des Nationalsozialismus.

Die Skulptur von Jacques Lipchitz, der besonders in den USA grosse Erfolge feierte, stellt einen Gitarrenspieler dar und wurde 1922 als Zementguss hergestellt. Der erste bekannte Besitzer der Plastik ist der französische Kunstsammler Paul Guillaume (1891-1934). Dieser hatte sich trotz seiner bescheidenen Herkunft dank einer guten Intuition für zeitgenössische Kunst zu einem wohlhabenden Kunsthändler gemausert und vertrat den jungen Künstler zu Beginn seiner Karriere.

Interieuraufnahmen der Pariser Wohnungen Guillaumes, die im Musée de l’Orangerie erhalten sind, belegen, dass sich das Werk mindestens bis zu seinem frühen Tod 1934 im Besitz des Händlers befand. Bei Provenienzabklärungen fokussiert man sich dank solcher Informationen anschliessend auf die Erben, in diesem Fall seine ehrgeizige Ehefrau Juliette Lacaze (1898-1977), genannt Domenica. An diesem Punkt beginnt sich das undurchsichtige Drama um die Sammlung Guillaume zu entfalten, welches in der sogenannten Affäre Lacaze und dem Verkauf (unter Wert) der Sammlung an den französischen Staat durch Domenica endet, angeblich im Tausch gegen Einstellung der Ermittlungen wegen geplanten Mordes und Verleumdung.

Domenica, eine attraktive, manipulative und selbstdarstellerische Frau, erbte nach dem Tod ihres Mannes die Kunstwerke. Paul Guillaume hatte diese eigentlich als Schenkung den französischen Sammlungen vermachen wollen, hatte es allerdings versäumt, dies testamentarisch festzulegen. Kurz nach seinem Tod fingierte Domenica eine Schwangerschaft, «kaufte» einen Jungen, Jean-Pierre, und adoptierte diesen, nachdem der Skandal um die vorgetäuschte Mutterschaft publik wurde. Die Gründe für die vorgetäuschte Schwangerschaft sind nicht ganz klar, Spekulationen gehen in Richtung Erbrecht. In den folgenden Jahren verkaufte Domenica mehr als 200 der progressiveren Werke aus der Sammlung, u.a. die afrikanischen Objekte, durch die Guillaume bekannt geworden war und erwarb dafür klassischere Objekte, wie frühe Werke von Paul Cézanne und Henri Matisse. So veränderte die Witwe die Sammlung grundlegend.

Nachdem Domenica, die bereits zu Guillaumes Lebzeiten eine ménage à trois mit dem wohlhabenden Architekten Jean Walter (1883-1957) unterhalten hatte, diesen ehelichte, verstarb auch letzterer, wie bereits Guillaume, unter nicht einwandfrei geklärten Umständen 1957. Domenicas Liebesabenteuer hatten sich auch in der Ehe mit Walter, sehr zu dessen Frustration, zum Ende als Dreierbeziehung mit dem Arzt Maurice Lacour fortgesetzt. Der Adoptivsohn Jean-Pierre, in Domenicas unerbittlichen Augen ein Versager, war ihr und Lacour für das Erbe im Weg; so sehr, dass sie – laut Jean-Pierre und einem Mann, der angab, als Auftragsmörder angeheuert worden zu sein – dessen Tod planten. Mangels stichhaltiger Beweise wurde das Verfahren gegen Lacour zunächst nicht weiter verfolgt.

Als Lacour und Domenicas Bruder, möglicherweise auf ihr Anregen hin, kurze Zeit später versuchten, Jean-Pierre der Zuhälterei zu bezichtigen, um die Adoption und somit eine Erbschaft nichtig zu machen, flog die Verschwörung auf. Endlich wachgerüttelt, begann die französische Justiz zu ermitteln und verurteilte sowohl Lacour als auch Domenicas Bruder zu Haftstrafen. Sie selbst wurde wohl auf Grund ihrer hervorragenden Beziehungen in die Politik und einer nicht ausreichende Beweislage nie angeklagt. Ob sie wirklich die Strippenzieherin hinter den Aktionen gegen Jean-Pierre war, ist bis heute nicht ganz klar.

Sicher ist hingegen, dass Domenica schon 1957 Verhandlungen bezüglich der Sammlung mit André Malraux (1901-1976), dem Minister für kulturelle Angelegenheiten aufnahm – und dies noch vor dem angeblich geplanten Auftragsmord. Sie verkaufte die Kunstsammlung dem 1959 dem französischen Staat zu einem symbolischen niedrigen Preis. Behauptungen, die während Monaten die französische Presse in Atem hielten, sie habe dies nur im Tausch für ihre Straffreiheit getan, wären auf Grund der Chronologie also hinfällig.

In dieser Geschichte ist bis heute wenig eindeutig geklärt, was zusätzlich zum Mysterium der Sammlung und den damit verbundenen Kunstwerken beiträgt. Nach Domenicas Tod wurden 146 erstklassige Werke in die staatlichen Museen Frankreichs integriert. Sie sind heute im Musée de l’Orangerie in Paris ausgestellt.

Die Skulptur von Lipchitz im Kunstmuseum Basel gehörte wohl zu den früh von Domenica aus der Sammlung ihres verstorbenen Mannes verkauften Werken. Dies kann anhand der oben beschriebenen Informationen angenommen werden. Tatsächlich legt eine Ausstellung im Petit Palais in Paris 1937 nahe, dass sie das Werk an Lipchitz retournierte, da dieser als Besitzer zu einem in der Beschreibung passenden Objekt genannt wird. Da sowohl Massangaben als auch Fotos fehlen, bleibt hier allerdings ein geringer Restzweifel bestehen. Die Spur des Gitarrenspielers verliert sich, bis er 1953 bei einem bislang nicht identifizierten Verkäufer namens Joseph Jonas in Genf auftaucht. Die Basler Kunstsammlerin Marguerite Arp-Hagenbach (1902-1994) erwarb das Werk 1954 von Jonas für das Kunstmuseum.

Obwohl die heutige, vertiefte Provenienzforschung – zurecht – oft im Kontext von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut angeregt wird, zeigen die hier geschilderte Werkbiografie und damit assoziierte Schicksale, dass Herkunftsforschung generell interessant ist. In dieser Geschichte kann bislang kein expliziter Verdacht auf einen Entzug im Zusammenhang mit dem NS-Regime festgestellt werden, vielmehr exemplifiziert sie darüber hinaus, dass der Wert von Kunst (emotional, künstlerisch, ökonomisch, aus Prestigegründen etc.) zu zweifelhaften moralischen Tauschgeschäften und kriminellen Plänen sogar innerhalb der eigenen Familie verführen kann. Die Provenienzlücke zwischen 1934 und 1953 bleibt vorerst bestehen, was sich im Laufe der weiteren Forschungen zum Kunstmarkt, Künstler und neuen Archivbeständen allenfalls noch ändern lässt.

Die französischen Museen haben in einem Dokumentarfilm von 2009 diesen Teil ihrer Geschichte aufgearbeitet.

Autorin: Vanessa von Kolpinski, wissenschaftliche Mitarbeiterin Provenienzforschung Kunstmuseum Basel